Der Verlustmensch

Verlierenlernen Wachstum, Dauerkonsum und Zugewinn? Aber nein! Der Mensch ist ein souveränes Verlustwesen...(ein fast unendlich naives Manifest)

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''Eine lange Zeit fuhr ich so fort, an meinem Tisch sitzend. Auch wenn ich nichts tat als warten, war es das Gleichmaß, mit der an der Balkonkante zerstaeubenden Schneeflocke. Mir schien, ich wuerde so fuer immer meine Ungeduld los und haette die mir gemaeße Geschwindigkeit gefunden.
Und weil es so einmalig war, kann ich es sagen: ich war da Wort fuer Wort in der Zeit, so als sei diese mein Ort. Oefter kam mir auch der Gedanke dazwischen, so etwas habe noch niemand erlebt; mit mir fange etwas Neues an. An der Stelle des vergessenen Koerpers spuerte ich jetzt eine Sinnlichkeit, mir lieb, in dem sie da war, ohne irgendwo hinzuwollen.

Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht

Wir muessen lernen, unsere Zeit zu verschwenden fuer den richtigen Zweck. Unsere Zeit gerade dadurch verwenden, dass wir sie verschwenden. ''Zeitverschwendung'', das war immer schon eine gaengelnde Ideologie und Propaganda-Parole der totalitaeren Arbeitsgesellschaft, die Muße nicht duldet und Faulheit sanktioniert. Auch wenn man irgendwann gar nicht mehr weiß und ueberhaupt nicht mehr begruendet, warum man die Menschen immer mehr arbeiten laesst statt weniger, blaeut man den jungen karrierewilligen Menschen immer mehr ein: ''nutzt eure Zeit fuer die Karriere, verschwendet keine Zeit.''
Das ist natuerlich großer Unsinn.

Am feinsten bildet sich der Mensch, der den Mut findet, sich selbst fuer eine ganz geraume Weile aus dem Weg zu gehen, den eigenen Willen abzuwerfen und auch der fremden Einvernahme zu entgehen. Man muss es aushalten, mindestens ein Jahr, wenn nicht laenger, souveraenes Treibholz zu sein in den Wirren des Ueberlassenseins und nicht zu planen, allein: sich selbst als vage entwerfen, sich dahinwerfen den Umstaenden, sich dabei aber rausnehmen aus dem System der produktiven Vereinnahmung. Man sollte etwas schoepfen, von dem man immer glaubte, das man es schoepfen wollte, einer Idee lauschen, die in die Welt will, um sie schoener zu machen, die in die Welt will, weil sie dort bluehen will und nicht, weil sie dort zum Wachstum beitragen will und zum Produktivitaetsprozess. Sie will begluecken, aber nicht berauschen oder Lust schaffen. Und vor allem ist sie eine Idee, die nicht verdienen will, oder auf Gewinn schielt oder Tantiemen.

Diese leise Idee in uns, die aus uns geboren werden moechte, hat nicht den lauten zielgerechten Schrei des Willens und Wollen, sie ist zag und verwundbar, sie zerstaeubt wie ein Bluetenpollenkoepfchen, wenn der rauhe WInd weht, aber sie ist vor allen Dingen schoen. Sie hat keine gezielte Richtung, wie der Pusteblumenfallschirm und auch wenn sie nichts veraendert, ist sie wichtiger als jeder formierende Schritt. Ihr Wollen ist der Drang des Schoenen, ans Licht zu geraten, aber sie will sich nicht breitmachen dort.

Dazu brauchen wir Zeit im Ueberfluss, muessen uns womoeglich Tage, Wochen und Monate zurueckziehen aus dem Gewirr unserer Beanspruchung durch die Arbeitswelt, muessen uns bereinigen, muessen der Berauschung und zugleich der Stumpfheit entgehen, Naechte durchwachen, um die Sinne wieder in der Kunst der ertragenen Angst zu schaerfen. Schauen lernen. Beobachten lernen. Den ganzen Tag (wir waehlen den Montag, denn Sonntag kann jeder) auf einer Waldblumenwiese verbringen ohne Buch und Sonnenoel und allein dem Wachsen und Krabbeln zuschauen um einen.

Und loslassen. Einen Gegenstand mitnehmen, den wir unheimlich lieb gewonnen haben und ihn im Wald liegenlassen auf einem Baumstumpf oder einem Feldweg. Und nie mehr wiederkehren und ihn nie mehr heimholen. Auch dieser Verlust schaerft unsere Sinne, unseren Sinn fuers Verlieren, denn es ist ein bewusster Verlust, wo wir doch sonst all die Jahre immer nur hinzugewonnen haben. Unsere groeßten Verluste sind dabei ganz still vor sich und von uns gegangen und wir haben es nicht einmal bemerkt, so hat uns der Konsum ueberspuelt. Loslassen, das ist bewusstes Verlieren.

Dann werden wir wacher mit den Tagen und bemerken, dass wir nie wirklich nur Zeit, sondern immer auch unseren Verstand und unsere wache Aufmerksamkeit auf die Dinge verschwendet haben. Das Entertainment hat uns abgestumpft und die Dosierung an Schrillheit und Nacktheit und Lautstaerke und Effekt musste erhoeht werden, damit wir unsere Belustigung auch noch ein bisschen spueren. Wir sind immer tauber geworden ueber die Zeit und waehrend die Tiere in den Schlachthoefen schreien, bezeichnen wir uns als Ende der Nahrungskette und lassen uns weiterhin vergiften vom System.

Nicht wahr, wir haben noch den Zynismus. Den haben wir uebernommen vom System und gelernt, zu allem, was so richtig danebenlaeuft und unseren Interessen zuwider, schon den moderat-beschwichtigenden Subkommentar zu fuehren, der es uns leichter macht, auch weiterhin nichts zu veraendern. Hauptsache, wir koennen ueber uns selber lachen und weiterhin alles nicht so ernstnehmen.

Aber alles verliert jetzt seine Selbstverstaendlichkeit, das Wetter und das Tiere-Essen, die Weltmacht Westen und das ewige Wachstum, die kontrollierte Sprache und die Arbeitsgesellschaft. Neue Zeiten draengen sich auf und wir muessen lernen, mehr Zeit zu verlieren, umso viel mehr Leben zu gewinnen.

Widerstand geht auch leise, so wie zB eine Pflanze den Asphalt aufsprengt und marode macht, ein kleiner Keim in seinem stillen Drang und seinem zarten Gewebe eine massive Steindecke durchschlaegt, um zu bluehen und sei es nur fuer einen Tag, das noetigt mir unendlich mehr Respekt ab, als die jahrzehntelange und nachweislich effiziente Karriere eines Bill Gates oder Steve Jobs. Diese Wirtschaftsriesen sind so unheimlich effizient und dennoch liegt mir soviel mehr am Verwehen des Pusteblumenkoepfchen, soviel mehr Sinn und Kraft in diesem geballten Lebenskreislauf von wenigen Tagen.

Schoenheit sammeln und Augenblicke. Zeit verwenden fuer sich selbst, nicht fuer seinen Chef oder den Betrieb. Man verschwendet keine Zeit, denn die Zeit vergeht ohnehin. Wenn, dann verschwendet man Zeit beim Arbeiten. Zeit also bewusster verlieren, um Schoenheit zu entdecken. Das Entdecken von Schoenheit bildet in der Gluecksfaehigkeit, das Konsumieren von Unterhaltung laesst Gluecksfaehigkeit verkuemmern und betaeubt allein wie jeder Rausch, der uns nach seinem Vergehen ins Leere stellt.

Wenn wir aber verzichten auf die billige und hinfaellige Unterhaltung, auf die Konsum-Artillerie, muessen wir auch nicht mehr viel Geld verdienen. Glueck nennen wir dann, was wir spueren und uns gut fuehlen laesst und fuer das wir nie auch nur einen Cent bezahlten. Glueck ist das schoene und fast undefinierbare Gefuehl, das uns mit uns selbst im Reinen fuehlen laesst, und nicht gekauft werden konnte mit Geld, sondern schwer erlangt wurde durch Verzicht auf Effizienz und Rausch und Konsumbefaehigung. Kaufen kann jeder (so er Geld hat), erlangen ist ein unendlich schwererer Weg.

Die Belohnung, die nur vermutet werden kann, ist neben dem Glueckszu''gewinn'' der neue Blick auf ''mich selbst'' als bewusstes Indiviuum. Wenn ich mich aus dem Ertuechtigungs-Zusammenhang reiße, gerate ich in eine schwere Krise. Aber diese Krise wird mobilisieren, was ich nicht in mir glaubte. Eine Staerke in uns, der wir dann nicht mehr hinterherjagen und sie doch nie erlangen, sondern die auf uns zugeht. Eine Staerke, die nicht finanzielles Glueck verheißt, sondern unserer Festigkeit und unserem gescjaerftem Bewusstsein entspringt.

Stellen wir uns also bereit, ganz viel zu verlieren an Besitzstaenden und Selbstverstaendlichkeiten, Zwaengen und Habseligkeiten, um ganz viel Raum zu schaffen fuer das, was in uns heranwachsen kann, wenn wir es nur ließen. Einen neuen Raum zu schaffen, den wir sonst immer nur ueberfuellen und verstellen durch Anhaeufung und Vermuellung. Schaffen wir diesen Raum aus uns selbst, haben wir den Mut zum Schoenen und machen wir uns auf den Weg zu uns selbst, in unsere unbekannten Raeume, entdecken wir den so stillen An-Spruch in uns, was da aus uns in die Welt gesetzt werden will, damit wir es endlich EINMAL sehen. Vielleicht werden wir Kuenstler statt Produzenten und Konsumenten und in jedem von uns wohnt ein Bild, ein Gebirge aus Gedichten, ein Lied mit einer unendlichen Melodie, eine unberechenbar mutige Idee ohne jedes Kalkuel, ohne Nutzen, aber mit einer Wurzel, die ins Glueck ragt.

Das wuerde Kunst heißen...soviel aermer koennen wir nicht werden als wir es jetzt bereits sind, da uns fast alles Greif- und Kaufbare zur Verfuegung steht. Uns selbst aber sind wir am Fernsten...

Der Weg, uns selbst neu zu gewinnen, kann nur sein, eine schoene Idee zu haben und diese schoene Idee zu leben. Keine Vorstellung und keinen Plan, sondern allein der schoenen Idee zu folgen. Ohne das notorische ''Aber'', diesen Reflex-Hammer des Pragmatischen, der allen Mut zum Alternativ-Entwurf in uns immer so effizient niederschlaegt. Kein ''aber ich muss doch eigentlich...''. Das System haelt uns von uns selber fern, gibt uns vor, was wir wollen sollen und wenn wir nicht wollen, kauft es uns ein, indem es uns kaufen laesst.

Begeben wir uns endlich auf den steinig-schoenen Weg zu uns selbst...erlangen wir uns schwer.

...naechstens mehr...

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Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy

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