Urteilsgewalt vs. Ratlosigkeit

Autoritätsverlust Einige lose Betrachtungen zum beschleunigten Aussterben jeder Gewissheit und eine kleine medientheoretische Betrachtung zur Mehrung der Ratlosigkeit durch das Digitale

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Wir geraten in die Zeit, in der Autoritäten keine große Rolle mehr spielen werden. Da kann man jetzt den Knautschepräsidenten Gauck noch so sehr zur moralischen Autorität aufblasen: diese Zeiten sind definitiv vorbei!

Es gibt Stimmen, die behaupten, die ganze menschliche Dummheit kommt ueber das ausgesprochene Urteil des Menschen über seinen Mitmenschen in die Welt. Das Urteil über jemanden zu sprechen, hat immer etwas Ueberhebendes, Richterliches und folgerichtig auch Exekutives an sich...seit einigen Jahren urteile ich daher konsequent nicht mehr, ueber die Menschen, die mir lieb und teuer sind, selbst wenn ich ihnen böse bin oder sie ein Gott weiß warum prekaeres Verhaeltnis zu mir haben (an dem ich womoeglich an allererster Stelle selbst schuld bin), jedenfalls: ich moechte nicht mehr urteilen...

Das Urteil kommt immer zu frueh. Das Urteil unterzieht den Beurteilten einer unerbittlichen Härte, an der der Urteilende letztlich selbst zerbrechen wird. Die so entschieden urteilen, ich habe mich immer schon gefragt, was fuer Menschen sie wohl seien...

Jeder Mensch hat seine Nacht, einige leben in der tiefsten...wir koennen ihnen nicht so einfach durch ein abfaelliges Urteil beikommen und sie zu aller Dunkelheit, die ihnen Tag fuer Tag bereits widerfaehrt, auch noch zusätzlich verurteilen.

Ich weiß gar nicht genau warum, aber als Kind habe ich unheimlich gern in der Bergpredigt gelesen, Matthäusevangelium.
Das Alte Testament dagegen hatte ich ziemlich schnell satt, der ach so ''liebe Gott'' war eigentlich staendig nur am Grollen und Zürnen, Auge um Auge etc, verkaufte den Leuten was von wegen ''Du sollst nicht töten'' und stellte dann selbst fortwaehrend neue Massaker an. Das war ein ganz fremder Gott, einer unter dessen Fuchtel ich nicht aufwachsen wollte...ein Wüterich wie mein Stiefvater, ein Tyrann, ein blindwütiger Richter...

Dann war da jedoch diese Frohe Botschaft, dass Jesus diese einfachen Worte spricht: ''Richtet nicht, auf dass IHR nicht gerichtet werdet...oder wie kannst du hingehen und sagen: 'Bruder, siehe, du hast da einen Splitter in deinem Auge?'
Du Heuchler! Erst gehe hin und ziehe den BALKEN aus deinem eigenen Auge und dann geh hin, und entferne den Splitter aus dem Auge deines Bruders...''

Ich will nicht groß predigen, aber das war eine starkes Gleichnis für die Enthaltung vom drastischen Urteil.

In den Zeiten der Aufklaerung galt die Urteilskraft als positive Errungenschaft für eine hehre Tugend: wer nuechtern zu einem Urteil kam, war der Richtschnur der Vernunft gefolgt und fügte der Welt durch ein Urteil Klarheit und Ordnung zu.

Aber der Mensch neigt gemeinhin dazu, rasch den Pfad der Urteilskraft zu verlassen, urteilsübermütig zu werden und sich leider zur Urteilsgewalt zu steigern. Der Urteilsgewaltige muss fortwaehrend ueber alles und jeden nach so harten Maßstaeben urteilen, wie er sie selbst nie und nimmer einhalten kann. Aber das gäbe ein urteilsgewaltiger Mensch natuerlich niemals zu...es scheint gar, der Urteilsgewaltige halte sich ueberhaupt allein dadurch aufrecht, dass er andere verurteilen kann. Das Ganze funktioniert wie die Auslagerung des schlechten Gewissens ueber die eigenen Unzulaenglichkeiten auf Dritte. Die Urteilsgewaltigkeit grenzt übrigens nahtlos an die Dummheit, was keinen aufmerksamen Beobachter ueberraschen wird.

Es gibt zudem eine Haerte des Urteils, die an die Unerbittlichkeit, Gnadenlosigkeit und Unversoehnlichkeit heranreicht, alles drei Attribute einer haltlosen Selbstherrlichkeit, wie sie nur verbohrte Charaktere aufrechterhalten können und die in diesen Charakteren eine Härte erzeugen, an der sie auf Dauer selbst zerbrechen werden...

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Das Alte Testament und das Urteil. Der Spiegel zB titelte vor einigen Wochen noch vor vollzogener (aber natuerlich absehbarer Präsidentenwahl) mit Gauck als dem ''Leviten-Leser''...auch hier der direkte Bezug zum Alten Testament und seinem drakonisch harten Urteil: da kommt irgendwer auf seinem mitgebrachten Podest daher und bramarbasiert über Moral und 'Ermächtigung' (raetselhafterweise eines der Lieblingswörter Gaucks) und Pflichten und Tugenden...wir aber brauchen keinen Politiker, der uns die Leviten liest...

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Es ist aber bei alledem kein Wunder, dass die Haerte und Gravitaet des Urteils alten vorderasiatischen Kulturkreisen und ihren archaischen Gesetzesformen und ihrem harten und deutlich bis überdeutlich ausdifferenzierten Recht entspringen (sowie in frühasiatischen Gesetzestexten immer viel ins Kleinteilige, in den Einzelfall gegangen wird) : wo viel Gesetz, da viel Urteil.

Bei alledem mag es also eine gute Sache sein, dass wir durch die digitale Kultur in eine urteilsschwache Gesellschaftsform eintreten. Ein Urteil braucht Zeit und setzt voraus, das man sich auch sicher sein muss, dass derjenige, über den da das Urteil verhandelt wird, auch wirklich verurteilt werden sollte und die Zeit, die man in die Sanktionierung seines vermeintlich fehlerhaften Verhaltens steckt, auch im Verhältnis zur ''Schwere seiner Tat'' steht. Auch heute noch verwechseln leider viele Institutionen den Tadel mit einem wahren Urteil. Wo ein Tadel oder Verweis reichen würde, wird ein Urteil gesprochen.

Nun bringt es aber die digitale Kultur tatsächlich mit sich, dass uns das Menschliche naeherrueckt. Wir erkennen Autoritaeten nicht mehr so gerne an, da wir erkennen, dass ihre autoritäre Perspektive, die notwendig fast immer eine überhobene sein muss, die von einer gedachten Art von Podest ihre Belehrungen in Richtung der vielen dirigiert, nicht mehr ohne weiteres oder gar nur per Amt/Titel anerkannt wird. Die Urteilsgewalt qua Autorität beruft sich immer auf Beugung und Unterwerfung (im besseren Fall ''Fügung'') dessen, der autoritätshörig ist.

'Was ist denn der da oben besser als wir'?, diese Frage stellen wir uns immer lauter. In einer Kultur, die zum Guten oder Schlechten steuernd, dennoch von Tag zu Tag 'smarter' wird (wir werden uns diesem Begriff in einem der naechsten Raumgewinner-Eintraege nochmal kritisch naehern), ist die Legitimation von Autoritäten auf einen schmalen Grat gerutscht. Statt dauernder selbstherrlicher Urteile werden jetzt Autoritäten gefällt.

Natuerlich beängstigen manchen diess Bröckeln fester Gewissheiten, sodass er sich gegen all die aufkeimende Ratlosigkeit wieder steinharte Urteile/Beurteilungen und Vorgaben und Autoritäten wünscht. Intelligentere Charaktere dagegen erkennen in dieser neuen Tendenz eine riesige Chance zur Emanzipation von den letzten Resten archaischer Elemente in unserer modernen Kultur. Wer zB seinen Uni-Professor noch als große (womoeglich noch moralische!) Autorität anerkennt, macht schon von vornherein etwas falsch. Diese Zeiten sind so unsagbar vorbei...heute faellt uns erst auf, wie sehr man dem Menschen zighunderte Jahre lang etwas vorgemacht hat. Das Netz als Bewusstseinsstrom macht die digitale Uneinverstandenheitserklärung erst möglich. Statt Unabhaengigkeit lautet das Schlagwort der autoritätenstürzenden digitalen Moderne ''Uneinverstandenheit''...

Keiner hat mehr das Recht, allein aufgrund seines vermeintlichen Alters, Wissens, seiner Stellung, seines Amtes, seiner Würde (überhaupt: Würde, wo soll dieser Begriff in diesen Zeiten noch hin??!), seines Geschlechtes, seiner Person per se oder seines Titels Autorität und überhöhtes Urteilsgewicht einfordern zu können.
Die Menschen sind nicht mehr so einfach brave Bürger, die sich zu Stimmvieh deklarieren lassen und sich ansonsten devot selbstbescheiden und sich irgendwelche Faseleien von der alles überragenden Staerke repräsentativer parlamentarischer Demokratien vorlabern lassen und dazu sonntäglich gefaellig nicken. Die 70/80er-Jahre sind vorbei...

Es ist wie im Weltmeer mit den Fischen, die immer kleiner werden...

Überhaupt hat in digitalen Zeiten allein schon aufgrund der Flüchtigkeit des Mediums ein gravitätisches zeitenübergreifendes Urteil keine Geltung per se mehr. Archaische Kulturen, die ihre (vorwiegend Gesetzestexte) noch in Stein hauen (und somit auch leiblich-physisch, das muss man wirklich einmal reflektieren: IN das Medium hineinschreiben!) wissen um den Aufwand dieser Vertextlichung von Urteilen und sind naturgemäß langsame bis stillstehende Kulturformen, deren Gesetze und Urteile nach langperiodischer Gültigkeit verlangen.

Die Pergamentkulturen sind ebenso langsam, wohingegen echte Papierkulturen (vor allem wenn der Buchdruck erfunden wird) dann zur Beschleunigung und Vervielfältigung neigen, da das Medium eben beschleunigter und etwas substanzloser geworden ist, auch wenn die Information als Bedeutungsträger weiterhin dem Medium eingraviert wird (wenn auch in schon bedeutend flüchtigerer Form). Das Urteil beschleunigt sich schon ein wenig gegenüber petrographischen Kulturen, was bedeuten will, dass die Festgefuegtheit einer Erkenntnis, einer Urteils gelockert ist.

Das Digitale als Medium ist nach dieser Logik endgültig eine urteilsvolatiles Medium, das ''Urteile'' komplett ins Vage stellt, sodass sie letztlich mehr wie Tendenzen als wie ein Urteil erscheinen. Die Dynamik des Mediums setzt unwiderlegbar deutlich konsequent die Dynamik und kinetische Verformbarkeit jeglicher Art von Urteil (das immer Konstanz voraussetzt) um. So entsteht ein Strom von Ideen statt, wie frueher, ritualisierte Erkenntnisaussagen, die fast kultisch gepflegt wurden, um ihre Wertigkeit und ihre gesellschaftskonstituierende und -konservierende Gültigkeit festzuschreiben. Heutzutage dagegen beschleunigt das Medium die Gültigkeit jeder Erkenntnis so sehr, dass deren Gültigkeit zuletzt überhaupt in Frage gestellt werden darf: die Metapher des Stroms ist geboren...wo Urteil war, ist Tendenz geworden...das Medium erscheint endgütlig wie eine Sandfläche am Ufer, deren Form im Minutentakt von den Wellen umgestellt und verwandelt wird...

Die ständige Bewegung und Erkenntnisverformung ist zum einzigen Gesetz geworden...jetzt entwickelt sich das Bewusstsein (das nicht mehr notwendig anthropogen sein muss) um ein Unendliches schneller...

Natuerlich werden sich gegen diese Entwicklung einmal mehr restaurative Kraefte, Parteiungen und Gesinnungen verbünden, um ihre Autorität, ihre Urteilsgewalt und -verfügung zu erhalten.

...naechstens mehr...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Paul Duroy

Der Weg in die neu aufgeklaerte und entspannte Gesellschaft ist moeglich und noetig

Paul Duroy

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