Als das Feuer ausbrach, wollte Muhammad Hanif durch den Notausgang fliehen, doch die Tür war fest verschlossen. Auch durch die vergitterten Fenster konnte er nicht, Rauch und Hitze raubten ihm fast die Besinnung. Dann schaffte er es, eine Lüftungsanlage aus der Wand zu brechen und fiel aus dem Fenster. Er überlebte den Fabrik-Brand, 260 andere Menschen starben in den Flammen. Jetzt schmerzt dem 26-Jährigen aus Pakistan die Lunge, wenn er lange Strecken läuft. Wegen einer schweren Rauchvergiftung kann er nicht mehr richtig arbeiten.
Muhammad Hanif ist ein ruhiger junger Mann mit kurzem Bart und gepflegter Frisur. Im Internet gibt es Videos von ihm, dort kann man seine Geschichte hören. Schon etliche Male hat er sie ausländischen Journalisten erzählt. Alle wollten genau wissen: Was passierte an diesem Abend, am 11. September 2012, als die Fabrik in Flammen aufging? Denn Hanifs Arbeitgeber, die Ali-Enterprises in Karachi, hatte einen großen Abnehmer – die deutsche Firma Kik. Deshalb wurde aus Muhammad Hanif kein wehrloses Opfer, sondern ein Ankläger: Seine Geschichte liegt nun beim Landgericht Dortmund und soll Wegweisendes klären: die Frage, ob Konzerne für Menschenrechtsverletzungen im Ausland verantwortlich gemacht werden können.
Einige Wochen nach dem Brand las eine junge Frau in Berlin Hanifs Geschichte im Spiegel. Wenig später stieg sie in Karachi aus dem Flugzeug. Miriam Saage-Maaß war damals 33 Jahre alt. Sie ist Anwältin und arbeitet für die unabhängige Organisation European Center for Constitutional and Human Rights. Das ECCHR, im Jahr 2007 gegründet und mit Sitz in Berlin, hat es sich zur Aufgabe gemacht, Verstöße gegen die Menschenrechte aufzudecken.
Deutschland auf Rang 5
Schon lange hatte Saage-Maaß nach einer Möglichkeit gesucht, Firmen für Vergehen im Ausland vor Gericht zu bringen – ein scheinbar aussichtsloses Unterfangen. Zum einen kennt das deutsche Recht keine strafrechtlichen Klagen gegen Firmen, zum anderen ist es oft extrem schwer, direkte Schuld von Konzernen festzustellen. Deren Produktionsketten sind weit verzweigt, die meiste Arbeit leisten Zulieferbetriebe. Deutsche Textilfirmen etwa kaufen nur im Ausland ein, sie besitzen so gut wie keine eigene Fabrik. Rechtlich können sie deshalb für Vorfälle an Produktionsstandorten kaum belangt werden. Eine Studie der Uni Maastricht kam 2015 zu dem Ergebnis, dass deutsche Konzerne in puncto Beschwerden wegen Menschenrechtsverletzungen weltweit auf Platz fünf rangieren. Doch eine erfolgreiche zivilrechtliche Klage gegen ein Unternehmen vor einem deutschen Gericht hat es noch nie gegeben.
Nach dem Brand in Karachi könnte sich das ändern. Denn Kik war fast der einzige Abnehmer von Ali-Enterprises. Und darum saß Saage-Maaß im Januar 2013 in Pakistan mit Gewerkschaftern und von dem Brand Betroffenen zusammen. Es ist eine von bis heute sechs Reisen nach Karachi, an deren Ende ein gemeinsames Ziel steht: Kik in Deutschland vor Gericht zu bringen.
Fast vier Jahre später, im September 2016, sitzt Saage-Maaß in ihrem Berliner Büro und sagt: „Ich glaube: Recht kann helfen, Systemunrecht aufzuhalten. Es geht nicht nur darum, Recht anzuwenden, man muss das Politische dahinter sehen.“ Das ECCHR ist ein David im Vergleich zum Goliath Kik: 20 Mitarbeiter gegenüber 20.000, ein Etat von 2,3 Millionen aus Spenden und Fördergeldern gegenüber einem Nettoumsatz von 1,82 Milliarden Euro. Aushängeschild der Nichtregierungsorganisation ist der Anwalt Wolfgang Kaleck, der Edward Snowden vertritt und schon Mercedes und Donald Rumsfeld verklagt hat.
Es geht dem ECCHR darum, öffentliche Aufmerksamkeit für die Menschenrechtsverletzungen von Konzernen herzustellen und sie dafür zugleich rechtlich zur Verantwortung zu ziehen. Letzteres kann frustrierend sein. Denn obwohl die Menschenrechte weltweit anerkannt sind, gibt es wenig rechtliche Möglichkeiten, sie durchzusetzen. Nur wenn Nationalstaaten sie in ihre Gesetze übernehmen, werden sie bindend. UN-Erklärungen wie die „Leitprinzipien für Unternehmen und Menschenrechte“, 2011 verabschiedet, sind nicht mehr als eine Empfehlung, der von der Bundesregierung aufgesetzte „Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Menschenrechte“ kaum mehr als eine Absichtserklärung. „Wir brauchen keine neuen Rechte, die Menschenrechtserklärung der UNO ist komplett“, sagt Saage-Maaß. „Was wir brauchen, ist eine bessere Durchsetzung.“ Das Problem: Deutsches Recht schützt eben nur Menschen in Deutschland. Was aber, wenn Firmen für Vergehen im Ausland verantwortlich sind?
In Karachi gründeten Überlebende und Angehörige von Opfern 2014 eine eigene Organisation, die Baldia Factory Fire Affectees Association, und geben als Ziel aus: „Wir wollen Gerechtigkeit, wir wollen, dass sich langfristig etwas ändert und wir wollen, dass man uns zuhört.“ Es gelte, die Rechte der Betroffenen in Pakistan selbst zu vertreten – und in Deutschland: Mit dem ECCHR klagen sie auf Schmerzensgeld. Da Kik seinen Sitz im Ruhrgebiet hat, landet der Fall in Dortmund.
Weil im deutschen Zivilrecht nur Einzelpersonen klagen dürfen, wählt die Baldia Factory Fire Affectees Association vier Vertreter aus, jeder soll 30.000 Euro Schmerzensgeld erhalten. Muhammad Hanif, der junge Mann mit der Rauchvergiftung, ist einer von ihnen. Zwar hat Kik Betroffenen inzwischen finanzielle Unterstützung in Höhe von 6,15 Millionen US-Dollar zugesagt. Doch dank der Klage geraten der Fall und die grundsätzliche Frage nach der Verantwortung nicht in Vergessenheit. Hanif und die anderen können ihre Geschichte wieder und wieder erzählen. Saage-Maaß glaubt, schon das ändere etwas vor Ort.
Für den Prozess hat das ECCHR den Anwalt Remo Klinger engagiert, einen in Menschenrechtsfragen erfahrenen Juristen. Er sagt: „Würden wir auf der Basis deutschen Rechts prozessieren, wären die Chancen gering.“ Deshalb beruft sich Klinger in Dortmund auf pakistanisches Recht, das dem britischen Common Law folgt und auf Präzedenzfällen basiert. Diese Form der Klage ist politisches Neuland, ob das Landgericht der Argumentation folgt, ist offen. Es ist noch nicht einmal sicher, ob es den Fall überhaupt behandeln wird. Doch im August bekamen die Opfer immerhin Prozesskostenhilfe bewilligt. Ein gutes Zeichen, glaubt Saage-Maaß, denn diese Hilfe erhält eigentlich nur, wer mit einer Klage „hinreichende Aussicht auf Erfolg“ hat. Allerdings kann sie auch ohne Einschätzung der Aussichten gewährt werden, wenn eine sehr schwierige Rechtssituation vorliegt, worauf sich das Gericht in Dortmund berufen hat.
Unglaubliche Naivität
Den Discounter Kik haben die Aktivisten aus Pakistan und Deutschland jedenfalls schon ordentlich zum Rotieren gebracht. Erklärte das Unternehmen noch 2012, trotz seiner Zahlung einer ersten Soforthilfe von einer Million Dollar trage es selbst keine Verantwortung für den Brand, engagierte es 2015 eine PR-Agentur, deren Vorstandschef Michael Inacker schon für Daimler, Wirtschaftswoche, Metro und Handelsblatt gearbeitet hat. War Kik gegenüber Medien bis dato als wenig auskunfts-, dafür umso mehr klagefreudig bekannt, startet es nun eine PR-Offensive, beantwortet Anfragen und initiiert Image-Kampagnen.
Die vor dem Landgericht Dortmund erhobenen Ansprüche auf Schmerzensgeld aber weist Kik zurück. Auf Freitag-Anfrage schreibt das Unternehmen: „Die Verpflichtung zum Schutz von Menschenrechten bleibt Aufgabe der Staaten.“
Für die Juristen vom ECCHR ist das ein Feigenblatt. „Es herrscht eine unglaubliche Naivität bei Juristen und Politikern über den Einfluss von Unternehmen“, sagt etwa Miram Saage-Maaß. „Kik ist nicht nur ein Abnehmer, Kik ist der Boss.“ Ihr zufolge fehlt der politische Wille, wirklich etwas zu verändern. „Das ist die schmutzige Seite der Globalisierung“, sagt sie, die Konzerne wüssten sehr genau, was an Standorten im globalen Süden passiert.
Das Landgericht Dortmund hat nun erst einmal beschlossen, bei einem Sachverständigen ein Gutachten zum pakistanischen Recht einzuholen. Es soll vor allem klären, ob und unter welchen Voraussetzungen eine Haftung der Beklagten gegenüber den Klägern gegeben sein könnte.
Das ECCHR arbeitet zeitgleich schon am nächsten Fall: Die Organisation will klären, ob Heckler & Koch mit mutmaßlich illegalen Waffenlieferungen nach Mexiko Mitverantwortung für das Massaker an Studenten im Bundesstaat Guerrero 2014 trägt, mit sechs Toten und 43 Verschleppten.
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