Wer wagt, gewinnt

Großbritannien Die britische Linke sollte gerade jetzt ein erneutes EU-Referendum nicht scheuen. Es bliebe ein Risiko, doch das sollte in Kauf genommen werden
Ausgabe 03/2019
Befürworter eines EU-Verbleibs protestieren am 15. Januar vor dem britischen Parlament
Befürworter eines EU-Verbleibs protestieren am 15. Januar vor dem britischen Parlament

Foto: Dan Kitwood/Getty Images

Ist seit der schweren Niederlage von Theresa Mays im Unteraus der Weg zu einem zweiten Brexit-Referendum weniger steinig? Mit der Absage an den Deal zwischen der Regierung May und der EU ist es wahrscheinlich, dass viele Abgeordneten versuchen werden, die Austrittsverhandlungen selbst in die Hand zu nehmen. Was sie anstreben, reicht von einer Mitgliedschaft im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) nach norwegischen Vorbild über das Aushandeln einer permanenten Zollunion bis hin zu einem Aufschub des Brexits, um erst einmal Zeit zu gewinnen.

Die meisten dieser Ziele sind so weit vom harten Brexit-Drang der Neoimperalisten auf dem rechten Tory-Flügel entfernt, dass sie nur realistisch sein können, falls sie das Volk bestätigt. Das Ansinnen, dies bei einem zweiten Referendum zu versuchen, fußt aus einem klaren demokratischen Argument. Dem ersten Volksentscheid ging ein Wahlkampf voraus, der nicht nur durch organisierte Lügen, sondern auch durch gesetzeswidrige Wahlkampfmethoden seitens der Austrittsbefürworter geprägt war. Es floss Geld, dessen Quellen bus heute im Dunkeln liegen. Zudem stimmten viele Briten ohne klare Vorstellung davon ab, wie der Abschied von der EU konkret aussehen würde. Heute wissen wir immerhin, wie zerstörerisch sich ein No-Deal-Brexit auf das Pfund und die britische Wirtschaft auswirkt. Was sonst passiert gerade?

Tortur der Kampagne

Freilich hat ein zweites Referendum starke Gegner. Man muss befürchten, dass die Befürworter erneut gewinnen, vielleicht sogar mit einer größeren Mehrheit als am 23. Juni 2016. Auch kann ein Nein zum Verlassen der EU eine rechtsextreme Gegenreaktion auslösen und die Popularität der rechtsextremen UKIP befeuert, deren neue politische Führung die Partei in Richtung Alt-Right und Fußball-Hooligan-Gemeinde lenkt.

Auch wird in der Labour-Führung ein zweites Votum mittlerweile als Instrument betrachtet, das Blair-Anhänger nutzen wollen, um Jeremy Corbyns Programmatik zu untergraben. Allerdings könnte es – trotz aller Risiken – am Ende einfach deshalb zu einem erneuten Referendum kommen, weil es im Parlament für nichts anderes eine Mehrheit gibt.

Also die Tortur einer Kampagne noch einmal auf sich zu nehmen? Durchaus, denn wird der Brexit durch ein demokratisches Mandat gestoppt, hat das nationalistische Projekt eines autoritären Staates der Thatcher-Anhänger für immer ausgesorgt. Er mag in einer quasi-faschistischen Form wieder auferstehen, aber die Konservative Partei wird sich dabei – realistisch gesehen – spalten. Gelingen wird dies nur, wenn der Slogan „remain and reform“ (bleiben und reformieren) konkret wird, indem beispielsweise der Lissabon-Vertrag verworfen wird. Ein Neuanfang könnte beinhalten, die neoliberalen und ordnungsliberalen Wirtschaftsstrategien aus diesem Abkommen zu nehmen, stattdessen ein Mandat für staatliche Interventionen, für Verstaatlichung und hohe Sozialausgaben zu erteilen – mit dem Ziel, ein neues europäisches Wirtschaftsprojekt zu entwerfen.

Raus aus der Komfortzone

Dem Einwurf einiger Linker: „Das wird Europa niemals akzeptieren“, wäre entgegenzuhalten: Was bringt es dann, nach dem Brexit zum Weisungsempfänger zu werden, der teilweise an die EU gebunden ist? Wer gute Gehälter, hohe Sozialleistungen und eine Reform der Arbeitsmärkte will, auf denen eine Ausbeutung von Migranten verhindert wird, kann das am besten in Brüssel und Frankfurt, dem Sitz der EZB, erreichen.

Um zu gewinnen, wird der britischen Linke nichts anderes übrigbleiben, als die Komfortzone zu verlassen, die paradoxerweise von Mays Inkompetenz in der Brexit-Frage geschaffen wurde. Die Linke muss einer Remain-Wahlkampagne ihren eigenen Stempel aufdrücken. Die People’s Vote-Bewegung hat gute Arbeit geleistet, indem sie die Möglichkeit eines zweiten Referendums erhalten hat. Aber sie bleibt im Kern dasselbe europhile neoliberale Bündnis, das für den negativen Ausgang des Referendums im Juni 2016 mitverantwortlich war.

Es ist jetzt Aufgabe der britischen Linken, vorrangig der Labour-Patty, eine Vision zu entwerfen. Auch man sich mit einem Deal à la Norwegen oder sogar mit irgendeinem maßgeschneiderten Arrangement, das Großbritannien klar Teil des europäischen Projekts bleiben ließe, anfreunden kann – so fehlen doch die darüber hinausgehenden, die Menschen motivierenden Visionen.

Zurück ins EU-Parlament

Um dem abzuhelfen, würde eine Rückkehr ins EU-Parlament nach Straßburg mit 40 Abgeordneten aus dem linken Labour-Flügel und einem Linken als Kommissar in der EU-Kommission (etwa für Wettbewerb, Handel oder Wirtschaft) der europäischen Linken einen wichtigen Impuls geben. Bleiben, reformieren und die EU-Regeln im Interesse der Arbeiterschaft neu schreiben – das wäre doch ein Wahlslogan, auf den Labour vertrauen könnte. Wenn die progressive Linke in Großbritannien ihr Ziel erreicht und ein zweites Referendum abgehalten wird, kann es nur als Klassenkampf gewonnen werden.

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Übersetzung Carola Torti

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