Wer ist Peer Steinbrück? Selbst die, die ihn zu kennen glauben, fragen sich, warum der Ministerpräsident die jüngste Krise der rot-grünen Koalition in Nordrhein-Westfalen provoziert hat. Frei von inhaltlichen Begründungen hat er festgestellt, dass es so nicht weitergeht. Damit hat er eigentlich Recht. In NRW ist die Erwerbslosigkeit groß wie überall, das Land hat die Strukturprobleme aus dem Abbau von Bergbau und Stahlindustrie bis heute nicht überwunden. Branchen, denen diese Aufgabe zugedacht war, wie die Medien- und Informationstechnologien, sind selbst zu Krisenfällen geworden.
Während beim grünen Koalitionspartner immerhin die Ministerin Höhn im Verbraucherschutz zu punkten weiß, ist die größere Regierungspartei SPD selbst ein Krisenfall: konsequent ideenlos, aber mit gewaltigem Beharrungsvermögen, wenn es darum geht, alte Filzstrukturen zu verteidigen. Leuchtturmprojekte, wie die gescheiterte Olympiabewerbung oder der jetzt beerdigte Metrorapid, sollten darüber hinwegtäuschen. Doch nun steht die große "Wir in NRW"-SPD nackt da. Bis heute müssen große multinational aufgestellte Konzerne wie RWE und Thyssen-Krupp als Neben-Landesregierung angesehen werden. Was in der Müll- und Bauwirtschaft (Skandale in Köln, Bonn, Essen, Wuppertal, Aachen) zuletzt durch staatsanwaltschaftliche Ermittlungen einen kriminellen Anstrich bekam - es ist eigentlich "legaler" Alltag, wenn es nur subtil genug angestellt wird.
Der Sinn der rot-grünen Landesregierung für dieses System besteht darin, eine mögliche Opposition wegzuintegrieren. Der grüne Regierungspartner wird zur loyalen Duldung verdonnert. Dazu gehören natürlich immer zwei, also auch die, die sich verdonnern lassen. Die CDU-Landtagsopposition fällt dagegen aus, weil sie schon lange am System partizipiert. In der Phase der SPD-Dominanz, die in den sechziger Jahren begann und nun endet, waren die ansässigen Konzerne und die rechten Sozis immer darauf bedacht, das CDU-Personal mitzunehmen. Die Hass-Phasen zwischen SPD und CDU, sei es zu Zeiten Willy Brandts, während der Kanzlerkandidatur von Strauss oder später, als Helmut Kohl seine Sozi-Allergien auslebte - sie waren der politischen Klasse in NRW immer wesensfremd. Ohne Häme muss man eingestehen, dass dieses besondere Verhältnis für die Menschen in NRW oft durchaus von Nutzen war. Beispielsweise wurde die Krise der Steinkohle so sozialverträglich abgefedert, dass die Renten der zur Ruhe gesetzten Bergleute heute zu den Besten der Welt gehören.
Das Modell der drei Könige
Ein wichtiges Instrument dieser korporatistischen sozialdemokratischen Regierungsform, die unser heutiger Bundespräsident Johannes Rau in den achtziger Jahren zur höchsten Blüte entwickelt hatte, war die Westdeutsche Landesbank (WestLB). Sie wies Sozialdemokraten den Weg in die Welt des großen globalen Kapitals und wurde von ihnen nutzbringend in der Landesstrukturpolitik, vor allem bei der Rettung und Sanierung gefährdeter Unternehmen eingesetzt. Friedel Neuber, der ehemalige Boss der WestLB, Krupp-Chef Berthold Beitz und Johannes Rau waren (und sind) Duz-Freunde, die diskret, aber wirkungsvoll im Stile einer konstitutionellen Monarchie die Sache und das Land im Griff hatten.
Nun löst sich dieses Imperium auf. Einen wichtigen Beitrag dazu leistete Rau-Nachfolger Wolfgang Clement. Raus Diskretion und kommunikative Fähigkeiten fehlen ihm völlig. Selbst mit mächtigen Zeitungsverlegern, die Rau regelrecht verehrten und Clement eigentlich ideologisch wohlgesonnen sind, legte er sich an. Eine heftige SPD-Niederlage bei der Kommunalwahl 1999 vergrößerte seine Panik. Die SPD-Hochburgen im nördlichen Ruhrgebiet wiesen Wahlbeteiligungen von 35 Prozent aus. Die Rathäuser in Köln, Essen, Gelsenkirchen und Münster gingen verloren. Die Oberbürgermeister im Ruhrgebiet machte sich Clement mit obrigkeitsstaatlichen Attitüden fast ausnahmslos zu Feinden. Dazu kam eigenes Missmanagement, das ihm auch jetzt als Bundeswirtschaftsminister wie ein Mühlstein am Hals hängt.
Zunächst versenkte Clement rund 100 Millionen Euro Subventionen in einer pleite gegangenen Medienfirma in Oberhausen. Dem Untersuchungsausschuss entkam er nur durch eine schwache Oppositionsarbeit der CDU und durch den stillhaltenden grünen Koalitionspartner. Nun erwartet ihn bald ein neuer Untersuchungsausschuss, der das Geschäftsgebaren diverser Landesgesellschaften (Gesellschaft für Wirtschaftsförderung, Projekt Ruhr GmbH, Medien GmbH und viele andere) in seiner Amtszeit untersuchen soll. Der Landesrechnungshof hat dazu soeben einen umfangreichen kritischen Bericht abgeliefert, und die CDU verliert im Angesicht des jämmerlichen SPD-Zustandes im Lande und mit glänzenden Meinungsumfragen im Rücken ihre Beißhemmung. Das größte Problem jedoch heißt WestLB. Manche meinen, dass Steinbrück, nach den Erfahrungen im Berliner Bankskandal, seine Koalitionskrise nur inszeniert habe, um die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit von seinen Landesbankproblemen abzulenken.
Die Spinne im Netz
Die alte WestLB war zur bundesweit fünftgrößten Bank aufgestiegen. Sie hatte mit dem Bundesland als Gewährsträger im Rücken gute Ratings, und ihr sozialdemokratischer Boss Friedel Neuber betätigte sich außergewöhnlich geschickt als dicke Spinne im Netz dieses staatswirtschaftlichen Kapitalismus. Die großen Privatbanken schäumten über diesen mächtigen Konkurrenten und fanden in Brüssel Gehör. Die alte Landesbank musste schließlich auf Druck der EU in das öffentliche Auftragsgeschäft und den Geschäftsbankteil aufgespalten werden.
Während dieses Problem jedoch EU-konform gelöst wurde, ging der Wechsel der politischen und ökonomischen Kultur, der mit Umorganisation und Personalwechsel verbunden war, offensichtlich katastrophal schief. Neuber hinterließ seinen Nachfolgern ein Filzsystem, das bis heute niemand entschlüsselt hat. Auch hier kratzte mal ein Landtags-Untersuchungsausschuss an der Oberfläche, an der sogenannten "Flugaffäre". Sie handelte davon, dass der Finanzminister von Johannes Rau, der mittlerweile verstorbene Heinz Schleusser, sich auf Kosten der WestLB zusammen mit einer Frau, die nicht seine Gattin war, zu seiner Ferienyacht an der Adria fliegen ließ. Der Verdacht liegt nahe, dass diese "Flugaffäre" an vielen anderen Landespolitkern (die weibliche Form dürfen wir hier absichtsvoll weglassen) nur knapp vorübergegangen ist. Der Kontrollehrgeiz der Landespolitiker über ihre Landesbank fand so eine natürliche Grenze.
Das Flimmern in der Herzkammer
So wurde denn auch in den zwei Jahren der Regentschaft des Neuber-Nachfolgers Jürgen Sengera eine Geschäftspolitik verfolgt, die von dem mit Landespolitikern besetzten Aufsichtsrat mangels Kompetenz und Engagement kaum kontrolliert wurde. Spektakuläre Fehlschläge haben sich angehäuft: die Finanzierung einer Ölpipeline in Ekuador, die nicht nur von Umweltaktivisten, sondern auch von der Weltbank scharf kritisiert wurde; die Finanzierung eines Neubaus des Londoner Wembleystadions, von der - mitten in der aktuellen Fußball- und Medienkrise - andere Banken wohlweislich ihre Finger ließen; der spekulative An- und Weiterverkauf von taumelnden britischen Großfirmen, an denen eine führende Bankerin der WestLB anscheinend privat mitverdiente. Mit ihr als Bauernopfer wollte WestLB-Chef Sengera seinen eigenen Job retten. Aber Steinbrück, der ihn einst ausgewählt hatte, brauchte selbst ein glaubwürdiges Opfer. So musste Sengera gehen, aber die Schieflage der WestLB mit Verlusten von insgesamt gut drei Milliarden Euro bleibt.
Diese Symptome aus der Herzkammer der Sozialdemokratie machen deutlich, wie sehr die SPD nicht nur inhaltlich, sondern auch sozial und habituell von ihren eigenen Wurzeln abgeschnitten wurde. Sofern sie überhaupt noch diskursfähig ist, kreist ihr Sinnen und Trachten nicht um die Alltagsprobleme ihrer Wähler, sondern um die Lösung von Managementproblemen. Und um von diesem Zustand abzulenken, braucht Steinbrück den Streit mit den angeblichen Modernisierungsverweigerern des kleineren Kaolitionärs. Zwar ist die aktuelle Krise beigelegt, aber das nächste Ablenkungsmanöver in Form einer großen Auseinandersetzung zwischen Sozialdemokraten und Grünen kommt bestimmt.
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