Umerzieher

Linksbündig Wer falsch wählt, muss noch mal an die Urne

Als der sich heute als Sozialdemokrat verstehende Michail Gorbatschow in den achtziger Jahren versuchte, den damaligen Sowjetmenschen mit einer staatlich gelenkten Kampagne das Saufen zu verbieten, legte er den Grundstein zum Ende seiner Politikerkarriere. Selten hatte die Straßenreinigung in seinem Land so viel zu tun, wie an dem Tag, als das Volk seine Kapitulation feierte. Danach soff das Volk mehr denn je. Die mittlere Lebenserwartung in Russland hat sich seitdem fast halbiert.

Das Problem, gegen das Gorbatschow angehen wollte, ist unleugbar. Es wird aber nicht gelöst, sondern verschlimmert, wenn Politik und Staat sich an Komplexitätsreduktion versuchen. Denn nie gibt es nur eine Ursache, die mit einer einzelnen publizitätsträchtigen Maßnahme aus der Welt zu schaffen ist. Je mehr untaugliche Versuche dieser Art zu beobachten sind, umso schlechter ist es um die Diskursfähigkeit von Politik und Gesellschaft bestellt.

Es gibt also Anlass zur Sorge, denn die Beispiele häufen sich. Beliebtes Thema: das Rauchen. Unbestreitbar belästigt Rauchen die Mitmenschen und ist ungesund. Wenn jedoch alles Ungesunde verboten werden soll, müsste ja als erstes das Arbeiten verboten werden. Warum Menschen rauchen - sie tun es nicht nur wegen böser Werbekampagnen - interessiert nicht. Viele NichtraucherInnen erwägen das Rauchen erstmals, nur um ihren Nonkonformismus zu zeigen, denn die Auseinandersetzung nimmt langsam Züge einer Umerziehungskampagne an.

Das Essen (und Trinken) ist zu Recht zum politischen Thema geworden. Doch auch diese Debatte gewinnt dogmatische Züge. Es geht wieder um gesund und ungesund, um richtig und falsch und damit letztlich um ökonomische Kriterien: Wer ungesund isst, schadet seiner Leistungsfähigkeit und ist daher mit Hartz IV richtig bedient. Es geht vor allem gegen die Dicken und ihre dicken Kinder, also die Unterschichten. Dass ein Drittel aller Mädchen und Frauen zwischen 10 und 30 heute alltäglich kotzen, mit dem Risiko der lebensgefährdenden Magersucht, ist dagegen kein Thema der Politik, sondern wird lediglich als Krankheit individualisiert und behandelt. Dass beide, die Dicken und die Dünnen, keine Lust und keinen Genuss am Essen und Trinken entwickeln können, dass es beiden an Souveränität und Ich-Stärke fehlt, dass das komplexe soziale Ursachen hat, ist wohl zu kompliziert für die Diskussion und für BundesministerInnen offensichtlich nicht kampagnenfähig.

Sehr wohl kampagnenfähig ist es dagegen für Wirtschaftsminister, uns zum Arbeiten und zur Mobilität zu zwingen. Kein Lohn soll uns zu niedrig, kein Weg zu weit sein, nur um uns ins traditionelle Erwerbsleben einzugliedern. Familie und Erwerbsarbeit: nach den Frauen scheitern nun auch die Männer immer mehr daran. Die Politik bricht sich an der Lebenswirklichkeit der Menschen. Heraus kommen gerechte SPD-Wahlergebnisse.

Mit den Mobilitätsanforderungen nehmen widersinniger Weise die Appelle zum Kindermachen zu. Nachdem es gelungen ist, das Land gegen Einwanderer und Flüchtlinge abzuschotten, steigt die Panik, dass "wir" aussterben. Doch was interessiert mich das, wenn ich tot bin? Folgerichtig sinkt die Geburtenrate, vor allem in den katholischen Ländern (Italien, Portugal), in Deutschland und in den EU-Beitrittsländern. Die Unsicherheit wächst und mit ihr das Bedürfnis nach Sicherheit, ihr einstiger Hort, die Familie wird idealisiert. Was selten ist, ist wertvoll.

Ein besonderer deutscher Clou ist nun die Zuspitzung der deutschen Reproduktionsdebatte auf die soziale Frage. Die Akademikerinnen sollen schuld sein. Während die Unterschicht und die Einwanderer immer noch mehr Kinder machen als erwünscht, also ganz so wie Afrika oder Asien, tun "es" die reichen und gebildeten Frauen immer weniger. Doch diese Kampagne ist ebenfalls zum Scheitern verurteilt. Diese Frauen wissen sich effizient zu wehren, je mehr die Umerzieher sie nerven.

Die Krone setzt die politische Klasse dem Ganzen auf, wenn sie mit Wahlergebnissen nicht einverstanden ist. Insofern ist Gerhard Schröders in den Medien gefeierter machiavellistischer Coup objektiv eine Kapitulation. "Liebes Volk, wenn Du falsch wählst, musst Du eben noch mal wählen." Gewonnen wird eine Wahl so nicht.


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