Wenn in jüngster Zeit überregionale Medien von der Theaterlandschaft der sächsischen Landeshauptstadt berichtet haben, dann nicht ohne dem am Staatsschauspiel Dresden angegliederten Theater in der Fabrik (TIF) besonderes Augenmerk zu schenken. Der Erfolg des kleinen Theaters in Dresdens Transitviertel Löbtau überrascht immer wieder - nachvollziehbar ist er nur im Kontext der Dresdner Theatersituation insgesamt.
Wie jede andere, durch ein bewegtes kulturelles Leben geprägte Stadt hat auch Dresden einige Ikonen definiert. Als aktuelles Beispiel muss Gret Palucca herhalten, die das 75. Jubiläum ihrer Ballettschule zwar nicht mehr erleben konnte, dafür aber ungefragt mit hartnäckigen Gedenkschriften ehemaliger Schüler beladen wird. Und wenn der Atem Dresdens mitunter als konservativ beschrieben wird, dann vornehmlich deswegen, weil sich innerhalb des Kulturbetriebes Maßstäbe halten, die stark mit dem Begriff Tradition korrespondieren.
Währenddessen wirkt in Dresdens Industriebrachen seit 1996 eine Tanztheatergruppe, die von den wichtigsten europäischen Festivals ausschließlich erste Preise in ihre Heimatstadt trägt und damit auch für die Stadt einen Ruf begründet. Doch Derevo, im Bewusstsein der Grotowski-Schule 1989 in St. Petersburg gegründet, muss bislang ohne städtische Zuschüsse auskommen, was keine Frage der Prioritäten bei der Vergabe von Fördermitteln ist, sondern eine der Wahrnehmung.
Der Kulturreisende mag in Dresden ganz zu Recht eine große Erlebnisvielfalt vermuten, und gerade die darstellenden Künste lassen sich nicht lumpen. Abgesehen von der Semperoper und dem Staatsschauspiel Dresden sowie dessen Nebenspielstätten Schloss theater und TIF existiert eine Palette von zehn Bühnen, darunter vier private und drei städtische Häuser, an denen Ausdrucksformen von Tanz bis Kabarett gepflegt werden. Jenseits der freien Szene aber, die in bescheidenem Umfang am Festspielhaus Hellerau, am projekttheater und am Societaetstheater aktiv ist, wird Theater in Dresden durchweg als bürgerliche Kultur gelebt und verstanden. Die Kritikerzunft der Stadt - mit je zwei Tageszeitungen und Stadtmagazinen eine ohnehin recht bescheidene Reflexionsfläche - sehnt sich in einem kürzlich in der SächsischenZeitung erschienenen Spielzeitrückblick vor allem nach »schillernden Inszenierungen« und »großen Konzeptionen«; gemeint sind weltumspannende »allgemeingültige« Stücke zu Sinn- und Lebensfragen und zwar solche, die man mögen kann. Hasko Webers dezent ostalgischer Wallenstein am Großen Haus des Staatsschauspiels geht daher als Höhepunkt der Saison 1999/2000 in die Annalen ein.
Die dem Jugend- und Neugiertheater entwachsene Generation um die 30 indes entzieht sich einem auf die punktuelle bürgerliche Selbstbefragung reflektierenden Theater und sucht einsam nach Befriedigung in alternativen Theaterformen, die ihrerseits auf einem gewissen Niveau von Auseinandersetzung aufbauen. Mitunter entsteigt der freien Szene ein solches unmittelbares Theater - Carsten Ludwig, Peter Harriet Maria Meining oder aber die lockere Koproduktions-Kompagnie »Theaterschafft« unter dem Nachwuchsregiepreisträger Jan Jochymski sind erfolgreiche Beispiele ohne Nachahmer geblieben - doch das Zielgruppenproblem wird durch diese Ausnahmen nicht gelöst, und die Verantwortung für große (und teure) Konzeptionen bleibt bei den hoch budgetierten Stadt- und Staatsbühnen liegen. So inszeniert Carsten Ludwig im Herbst am Schloss theater Die Maßnahme nach Brecht/ Eisler in einer Koproduktion der Semperoper und des Staatsschauspiels; das Ehepaar Meining programmiert im September 2000 seine letzte Performance-Saison am Festspielhaus Hellerau, bevor sich beide »bis auf Weiteres« dem Film zuwenden, und Jan Jochymsky hat sich von der freien Szene gänzlich entfernt, um weiterhin am TIF zu inszenieren, wo er allein in der vergangenen Spielzeit vier Inszenierungen ablieferte - zuletzt die Uraufführung von Kai Hensels Party mit totem Neger. Übrigens ein Autor, den das Staatsschauspiel im Rahmen des Berliner »Uraufführungstheaters« (UAT) unter Oliver Bukowski, das seit April 2000 neue deutsche Dramatik am Staatsschauspiel Dresden vorstellt, für eine Uraufführung an Dresdner Schulen im Oktober 2000 vorgesehen hat.
Dass das TIF hier deutlich schneller war und insbesondere eine andere Intensität vorlegt - Kai Hensel wird dort im Juni 2001 ein Autorenprojekt realisieren - liegt in der gar nicht so erstaunlichen, nur konsequenten Arbeit des Hauses und der dort vertretenen Auffassung von einem zeitgenössischen Theater begründet. Das eigenbetriebsähnlich organisierte TIF fördert auf eigenes Risiko Talente - ob Regisseure, Schauspieler, Choreographen oder Autoren - mit dem Selbstverständnis desjenigen, der sich entschieden hat, eine einmal begonnene Sache zu Ende zu führen. Die fachlichen und menschlichen Kapazitäten der wenigen Mitarbeiter werden für diese Belange ebenso unterschiedslos instrumentalisiert wie jedweder Raum, Kontakt und Einfall. Das Theater in der Fabrik arbeitet, so gesehen, gar nicht anders als eine freie Theatergruppe - Professionalität vorausgesetzt.
Der Intendant des Staatsschauspiels, Dieter Görne, erzielt zum Ende seiner Amtszeit mit der Entscheidung, dem TIF freie Hand zu lassen, nicht unbeträchtlichen Gewinn in zweierlei Hinsicht: Erstens haben sich die großzügige Behandlung des auch am Staatsschauspiel nicht unumstrittenen Tochterhauses und der enorme Vertrauensvorschuss in dessen Leitung zu einem sichtlichen Erfolg von überregionaler Bedeutung ausgewachsen, und zweitens hat das TIF in ausdauernder Pionierarbeit für zeitgenössisches Theater inmitten Dresdens Projekte wie das Berliner UAT überhaupt erst ermöglicht. Auch das lange Zeit profilsuchende Schlosstheater (Ausweichspielstätte für das Kleine Haus des Staatsschauspiels bis 2004) hat mit der Befreiung von Theateranrechten erst kürzlich eine gewisse Würde gewonnen und bringt mit Hilfe von Ur- und Erstaufführungen sowie Gastregisseuren wie Johanna Schall (The Strip) oder Stefan Nolte (Reinald Goetz' Krieg) ein ganz neues, fesselndes Theater an das Staatsschauspiel. Der TIF-Bonus für die Theaterlandschaft der Stadt Dresden und insbesondere das Staatsschauspiel ist also erheblich und zeitigt seine Folgen, - unabhängig von der Entscheidung des Görne-Nachfolgers Holk Freytag, der das Seinige zum Fort- oder Nichtbestehen dieser Spielstätte nach dem Herbst 2001 noch sagen muss.
Das Team des TIF, die verschworene Trias aus Eva Johanna Heldrich (Leitung), Kai Schubert und Ans Brockfeld, hat zur Zeit eigentlich nur eine Sorge: Was ließe sich der durch die eigene Arbeit geschlossenen Lücke in Dresdens Theaterlandschaft noch hinzufügen? Abgrenzung, Profilierung ist nicht wirklich notwendig, da weder regional noch überregional ein Pendant zu der am TIF praktizierten, hochgradig konzentrierten Wahrnehmung des irischen, britischen und immer häufiger auch deutschen Autorentheaters zu erwarten ist. Während nämlich die Kritiker des zeitgenössischen Theaters, das beispielhafte Auseinandersetzung mit Realität bietet, zu Recht auf die Kurzatmigkeit der dort angesiedelten Themen und Regieeinfälle verweisen, haben bisher nur wenige Theaterproduzenten die neue Arbeitsplattform aus Autoren und Regisseuren wirklich betreten. Sollte das Dresdner Beispiel aber Schule machen - und gemessen an der intensiven Reaktion des gesamtdeutschen Fachpublikums spricht einiges dafür - wird das TIF vermutlich nicht der Ort sein, wo diese theatrale Form zur Blüte kommt. So hat sein Modellcharakter schon beinah etwas Museales. Doch mehr als das Erleben von Zeitgeschichte konnte Theater vielleicht niemals leisten. Und wenn sich das TIF nun manchmal wie der Spielball von Bewusstwerdungsprozessen vorkommen muss, so entspricht das vielleicht nicht den Zielen der dortigen Arbeit, wohl aber dem Wesen der Sache.
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