Willkommen in der Postdemokratie!

Bundestagswahlkampf Colin Crouch attestierte westlichen Demokratien vor fast 20 Jahren, dass sie in ein neues Stadium übergehen. Der Bundestagswahlkampf zeigt: Wir sind nun mittendrin!

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Der öffentliche Diskurs im Wahlkampfjahr ist an einem Punkt angekommen, an dem kaum noch eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Es wird sich in voller Breite über persönliche Verfehlungen gestritten, seien dies die Aufhübschung eines Lebenslaufs oder das zugegebenermaßen zynische Lachen in einem Moment der Betroffenheit
Der öffentliche Diskurs im Wahlkampfjahr ist an einem Punkt angekommen, an dem kaum noch eine inhaltliche Auseinandersetzung stattfindet. Es wird sich in voller Breite über persönliche Verfehlungen gestritten, seien dies die Aufhübschung eines Lebenslaufs oder das zugegebenermaßen zynische Lachen in einem Moment der Betroffenheit

Foto: Tobias Schwarz/AFP/Getty Images

Der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch formulierte vor fast 20 Jahren die These, dass die etablierten „westlichen“ Demokratien den Zenit ihrer demokratischen Entwicklung überschritten haben und auf dem Weg in einen Zustand seien, den Crouch als Postdemokratie bezeichnet. Bei der Beobachtung des Wahlkampfes in Deutschland im Jahr 2021 muss man konstatieren: Die „westliche“ Demokratie ist nicht auf dem Weg in die Postdemokratie – sie ist mittendrin.

Der Bundestagswahlkampf 2021 zeichnet sich insbesondere durch seine obszöne Inhaltslosigkeit aus. Auf die Spitze treibt dies sicherlich die CDU. Dass Inhaltslosigkeit, Oberflächlichkeit und Beliebigkeit Kernkompetenzen der CDU sind, ist zwar nicht neu, aber angesichts der sozialen und ökonomischen Verwerfungen durch die Coronapandemie und die Herausforderungen des sich intensivierenden Klimawandels schwer verkraftbar. Noch schwerer verkraftbar ist allerdings die Gleichgültigkeit mit der sowohl die Öffentlichkeit als auch der politische Gegner der Partei, die vermutlich die nächste Regierung dieses Landes anführen wird (!), diese Inhaltslosigkeit und Oberflächlichkeit durchgehen lässt.

Der bundesdeutsche Wahlkampf ist zu einem schlichten Austausch von ad hominem Argumenten verkommen. Beispiele hierfür sind die Schmutzkampagnen gegen Annalena Baerbock oder die ständige Frage nach der Eignung Armin Laschets für das Kanzler:innenamt, die ihm aufgrund seiner „rheinischen Frohnatur“ entweder zu- oder abgesprochen wird. Der Vorwurf des inhaltsleeren Wahlkampf trifft fast ausnahmslos alle politischen Akteur:innen und breite Teile der Teilnehmer:innen am öffentlichen Diskurs. Dass insbesondere die politische Rechte eine Strategie der „asymmetrischen Demobilisierung“ verfolgen würde, war zu erwarten. Der Erfolg, den sie damit haben würde, allerdings nicht. So schafft es die politische Rechte nahezu jede inhaltliche Auseinandersetzung abzuwürgen – und die politische Linke ist in dieses unwürdige Spiel mit eingestiegen. Dass dies weder bei der Konkurrenz noch in der Öffentlichkeit größeres Unbehagen hervorruft, muss als Indiz gesehen werden, dass es um die Demokratie in diesem Land schlechter bestellt ist, als viele denken.

Wenn die Demokratie zur Show geworden ist

Die CDU hat diese Entwicklung vorangetrieben – und sie profitiert gleichzeitig am stärksten davon. Dabei geht vor allem unter, dass die CDU gelinde gesagt unseriöse Politikangebote macht, die vor allem den Wohlhabenden in dieser Gesellschaft zugute kommen. Ein Beispiel gefällig? Die CDU desinformiert die Bürger:innen gezielt zugunsten von Wirtschaftsinteressen, sicherlich auch, weil sie eng verbunden ist mit den verschiedenen Wirtschaftsverbänden und Interessensgruppen wie etwa der Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM). In ihrem Wahlprogramm fordert die CDU eine Rückkehr zur „schwarzen Null“ bei gleichzeitigem Ausschluss von Steuererhöhungen, Soli-Abschaffung für alle und dem Ausschluss einer Substanzbesteuerung. Unabhängig davon, dass die „Schwarze Null“ angesichts eines immensen Investitionsstaus und einer ausufernden ökonomischen Ungleichheit (durch die Coronapandemie noch verschärft) ein äußerst fragwürdiges Ziel ist, unterschlägt die Partei wissentlich, dass dies nur mit weiterem Raubbau am Sozialstaat möglich ist. Die Einfallstore für inhaltliche Kritik seitens linker Parteien sollten offensichtlich sein, doch es geschieht exakt nichts. Dies ist nur eines von vielen Beispielen.

Der öffentliche Diskurs im Wahlkampfjahr ist an einem Punkt angekommen, an dem de facto kaum noch eine inhaltliche Auseinandersetzung über für uns alle zukunftsweisende Themen stattfindet. Es wird sich in voller Breite über persönliche Verfehlungen gestritten, seien dies die Aufhübschung eines Lebenslaufs oder das zugegebenermaßen zynische Lachen in einem Moment der Betroffenheit. Es wird darüber gestritten, ob die eine oder die andere Person „das Zeug“ zum/zur Kanzler:in hat. Diese Art des Diskurses findet statt, wenn die Demokratie zur Show geworden ist. Wenn statt inhaltlicher Auseinandersetzung, Verdrehung, Lügen und persönliche Diskreditierung zum Ziel werden. Wenn die Bürger:innen Demokratie als Show verstehen, an der sie einmal alle vier Jahre teilhaben können und sonst mit Apathie und Teilnahmslosigkeit danebenstehen, dann heiße ich Sie willkommen in der Postdemokratie.

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