Die permanente Revolution

Ägypten Die Absetzung Mursis ist kein reiner Militärputsch. Sie ist die Errungenschaft einer neuen Welle der Revolution, deren Werte auf der Straße verteidigt werden

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Die permanente Revolution

Foto: Ed Giles/Getty Images

Die Wucht der ägyptischen Revolution übertrifft alle Erwartungen. Nach dem Sturz des 30 Jahre lang herrschenden Polizeistaats unter Mubarak und der Absetzung des übermächtigen Militärrat SCAF unter Tantawi wurde gestern der islamistische Präsident Mursi abgesetzt. Dieser Tag ist ein historischer Einschnitt – nicht nur für Ägypten, sondern für den gesamten Nahen und Mittleren Osten. Die ägyptischen Moslembrüder sind nichts Geringeres als die Begründer des politischen Islams, die nun durch eine bisher nie dagewesene Mobilisierung von Menschen entmachtet wurden.

Moslembrüder – Der schnelle Fall eines Giganten

Eine Bewegung, die seit 80 Jahren in Ägypten aktiv ist und in ihrer politischen Potenz nahe zu konkurrenzlos erschien, fällt eineinhalb Jahr nach ihrer Machtübernahme. Noch im November 2011 hatten sie mit ihrem Partner, der salafistischen Partei Al Nour fast 70% der Stimmen bei den Parlamentswahlen errungen.

Zu dieser Zeit genossen sie in weiten Teilen der Bevölkerung einen guten Ruf. Sie waren zu Beginn der Revolution zwar spät, aber dennoch dabei. In der Folgezeit spielten sie eine moderate Rolle und versprachen, dem Land durch die Vermittlung zwischen der Armee und der revolutionären Bewegung auf der Straße Ruhe und Stabilität zu bringen. Mit dem Namen „Freiheit und Gerechtigkeit“ hatte sich die Partei an den Forderungen der Revolution orientiert. Ihre Polepostion in der politischen Sphäre des postrevolutionären Ägyptens war nicht unverdient.

Als Mursi dann als erster frei – wenn auch knapp – gewählter Präsident die Führung der SCAF um Tantawi in Rente schickte, erfüllte er die Forderung der 2. Welle der Revolution und beendete das Vorhaben einer militärisch dominierten politischen Sphäre.

Doch einmal an der Macht, veränderte sich das Gesicht der Brüder rasant. Hastig begannen sie die Macht an sich zu reißen. Sie agierten so gierig, dass selbst Al Nour zunehmend auf Distanz ging.

Die Geburt einer neuen Opposition rief Mursi mit seinen präsidialen – und polarisierenden – Dekreten im November 2012 hervor. Die Absetzung der alten Riegen aus der Mubarak-Ära verband er mit neuen Vollmachten, die er sich einräumte und die ihm quasi unbegrenzte, despotische Rechte zuschrieben.

Doch mit Hundertausenden auf den Straßen hatten die Muslimbrüder scheinbar nicht gerechnet. Neben Tahrir wurde in Kairo Itihadiya nahe dem Präsidentenpalast Schauplatz gigantischer Demonstrationen und schwerer Zusammenstöße mit der Opposition. Die Wirtschaftszentren von Suez und Mahalla entglitten der Regierung vollkommen. In der dritten Welle der Revolution gelang es dem Block von Nasseristen, Liberalen und Linken zum ersten Mal, den Islamisten auf der Straße zahlenmäßig deutlich überlegen zu sein, während die Parteizentralen der Brüder im ganzen Land in Flammen aufgingen. Binnen einiger Wochen hatten die Brüder alle anderen Lager gegen sich aufgebracht.

Statt nach Integration zu streben und die anderen politischen Blöcke an der Macht zu beteiligen, suchten die Brüder, angeführt von ihrem starken Mann und Hardliner Shatr die Nähe zu den radikaleren Kräften des islamistischen Lagers, polarisierten entlang der religiösen Frage und isolierten sich immer weiter.

Ausschlagendgebend war der parallel laufende soziale Niedergang in Ägypten. Die fehlende politische Stabilität ließ die Wirtschaft weiter leiden, während die Verhandlungen mit dem IWF das brachten, was sie überall bringen: Die Verteuerung von Grundnahrungsmittel und eine weitere Schwächung der sozialen Infrastrukturen.

Die Moslembrüder hatten binnen kürzester Zeit statt Freiheit und sozialer Gerechtigkeit das Gegenteil von dem eingeleitet, was der revolutionäre Prozess von ihnen verlangt hatte.

Etappensieg der Revolution

Es waren der Verrat an den Werten der Revolution und die Opposition auf der Straße, die die Hegemonie der Brüder brachen. In den westlichen Medien dominiert das Bild vom Militärputsch, das aber dem Charakter dieser Ereignisse nicht gerecht wird. Das Militär war nicht der Auslöser und die treibende Kraft bei der Absetzung Mursis (es sei denn man setzt auf Verschwörungstheorien). Es war die Opposition, die Unzähligen auf den Straßen der großen Städte und Zentren des Landes, die im November von der Nationalen Heilungsfront (NSF) und in diesem Sommer von der Koalition um Tamarod (Rebel) repräsentiert wurde. Die Armee schritt ein, um die Forderung der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung durchzusetzen und ein Blutbad sowie einen Bürgerkrieg zu verhindern. Nur so konnte die Armee intervenieren und gleichzeitig das große Wohlwollen der Mehrheit genießen. Sie spielte eine ordnungspolitische Funktion, ohne die Ägypten in einer Hölle aus Gewalt erstickt wäre.

Die Motive der Armee sind sicherlich machtpolitisch. Die Armeeführung ist CIA-nah und der Hauptkapitaleigner Ägyptens. Sie werden sich jedoch – aufgrund der Erfahrung der SCAF 2011/12 – hüten, die politische Sphäre militärisch regeln zu wollen. Um ordnungspolitisch gut zu funktionieren, wird die Armee versuchen, eine breite Koalition in die neuen politischen Institutionen zu integrieren. Die ägyptische Revolution hat insofern schon erreicht, dass seit dem 30. Juni eine Machtkonzentration auf einen einzelnen Akteur nicht mehr möglich ist.

Die Zukunft des nächsten Regierungsprojekts in Ägypten wird neben der pluralistischen Integration verschiedener Kräfte von der sozialen Entwicklung abhängen. Dafür muss die neue Regierung für eine unmittelbare Verbesserung der Lebenssituation der Armen als auch des urbanen, gebildeten Prekariats sorgen. Dies ist jedoch eine Mammutaufgabe. Ägypten hat knappe Ressourcen, der Staat ist quasi Bankrott, Wirtschaft und Armee sind vom Westen abhängig und müssten sich vom IWF lösen. Ägypten wäre eine Phase der Stabilität zu gönnen. Trotzdem wird man der neuen Regierung eine Schonfrist einträumen. Scheitert sie jedoch an der sozialen Frage, ist die nächste Welle der Revolution vorprogrammiert.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

Pedram Shahyar

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