Entspanntes Borsa

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Das Wochenende ist hier vorbei, aber die Cafes in den Straßen Borsas sind bis zur Mitternacht voll mit jungen Menschen. Diese Cafes sind nach der Revolution zum Treffpunkt der verschiedenen Aktivistenszenen geworden, jede Clique hat ihr Stammcafe. Kurz nach Mitternacht treffe ich Ahmad. Er ist ein linkgerichteter Aktivist, der im „Hesham Mubarrak Center“ arbeitet, eine wichtige Institution der Revolution, die eine Art Rechtberatung für Aktivisten betreibt. „Ach, ganz entspannt die letzten Tage, bei der Hitze kann ich eh nichts machen“. Ahmed spricht persisch, hatte versucht im Iran Medizin zu studieren und genießt es, seinen Persisch mit mir aufzufrischen. In seinem Stammcafe sitzt auch Amal, eine sehr moderne Frau mit ihrer jungen aber gut englischsprechenden Tochter. Sie ist alleinerziehend und eine Mitbegründerin der Bewegung „6. April“, vielleicht das wichtigste Netzwerk des Aufstandes. „Nee nee, gerade keinen Stress, ich war im Wellness-Center die letzten 2 Tage“ sagt sie lächelnd.

Diese Tage ist die Lage in Kairo recht entspannt, die Demonstrationen sind klein, der Alltag scheint sich zu normalisieren, soweit man Normalität in einer postrevolutionären Phase denken kann. Es gab mehrere Kräftemessen in den letzten Wochen. Am 9. März räumte die Armee brutal den Tahrir, 150 Aktivisten wurden festgenommen und zum Teil gefoltert. Ende März gibt es das Verfassungsreferendum, in dem das progressive Lager mit ihrer „Nein-Kampagne“ nur 22% erreicht und eine heftige Niederlage gegen das neue Bündnis der Armee und den Muslimbrüder einstecken muss. Immer wieder flammen religiöse Konflikte auf. Dann kommt es am 8. April unter dem Motto „Für die Rettung der Revolution“ zu einer gigantischen Demonstration auf dem Tahrir, die Muslimbrüder sind auch wieder dabei, es könnten wieder eine Million gewesen sein. Nach dem die große Massen den Platz verlassen hat, kommt es in der späten Nacht zur heftigen Auseinandersetzungen mit der Armee. Über Stunden wird scharf in die Menge geschossen, es gibt unzählige Verletzte und mehrere Tote. Diese Nacht ist ein historischer Bruch, das erste Mal, in dem die ägyptische Armee auf die eigene Bevölkerung schießt. „Die sind richtig durchgedreht“ erzählt mir Kristin, „vor unsere Haustür haben die jemand erschossen, in den Seitengassen, überall wurde scharf geschossen“. Die Lage ist seither sehr angespannt. Am 27. Mai rufen die Jugendnetzwerke zu einem Aktionstag für die „Zweite Revolution“. Die Krankenhäuser werden in der Nacht in Alarmbereitschaft gesetzt, doch dann hält sich die Armee komplett zurück. Die Muslimbrüder und die Salafisten mobilisieren dieses Mal gegen die Aktivisten, doch die Jugend der Brüder geht mit auf dem Tahrir, der wieder gut gefüllt ist, bis zu 100.000 werden es gewesen sein. In 15 Orten kommt es an diesem Tag zu Demonstrationen, die größte ist in Alexandria, wo sogar viel mehr Leute auf der Strasse sind als in Kairo. „Das war sehrerstaunlich, den Alex ist eigentlich sehr religiös“ erzählt mir Nagib vom linken Netzwerk „Jugend für Freiheit und Gerechtigkeit“. Die Leuten hätten in Alexandria gerufen „die Ägypter sind auf der Straße, wo sind die Brüder“. „Das war eine klares Massage an das neue herrschender Block von Armee und den Muslimbrüdern, dass sie den Revolutionssprozess nicht so abrupt beenden können“ sagt Nagib selbstsicher. Am letzten Mittwoch dann lädt die Armee die Vertreter der revolutionären Jugend zu Dialog. Die meisten progressiven boykottieren das Treffen, doch die Armee hat es nötig, das Treffen als Erfolg zu verkünden. Sie merken wohl auch ihre Grenzen. Die Avantgarde der Revolution hat Schläge einstecken müssen, aber sie ist alles andere als geschlagen.

Dies scheint die Konstellation dieser Woche zu sein, in der die Aktivisten ohne Stress auf Borsa rumgammeln. So war es schon gestern, wo wir dann zur späten Stunde auf dem Dach des Carliton-Hotels versammelt waren. Dort feierte Ramy Essam seinen Geburtstag. Ramy war ein Sänger, der mit seiner Gitarre auf dem Tahrir revolutionäre Lieder spielte. In der legendären Nacht der „Camel-Wars“ am 2. Februar, als Zehntausende Mubbarak-Schläger den Platz attackierten, wurde er verletzt und sang dann mit gebrochenem Arm, was ihm zum Barden des Tahrir erkor. Am 9. März wurde er festgenommen, und er war der erste, der die Fotos von seiner Folterung veröffentlichte. In dieser Nacht auf dem schönen Dach von Carliton singt er auch wieder, und alle mit. Als zur späten Stunde der Alkoholpegel bereits nach oben geschlagen ist, hören wir Schüsse und einen sehr lauten Knall. Die Menge jubelt, ich hab das Gefühl sie wissen über Twitter bereits vorher Bescheid, was gerade passiert. Eine Polizei-Station in der Nähe vom Ramses-Platz wird gerade attackiert. Ein Busfahrer wurde wegen Verkehrsunregelmäßigkeiten verprügelt, unklar von wem, und starb in der Polizeistation. Die Busfahrer aus dem Stadtteil griffen diese Station an und brannten es ab. Für Montag haben sie jetzt eine Demonstration vor dem Innenministerium angekündigt.

Ja, es ist alles recht entspannt, ruhig und normal hier, eben die Normalität eines postrevolutionären Umbruchs.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Pedram Shahyar

Blog aus den Metropolen des globalen Aufstandes

Pedram Shahyar

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