Ende der Siebziger Jahre in der thüringischen Provinz: Willy Werchow ist Direktor eines Druckereibetriebs, seine Frau Ruth ist Sparkassenangestellte, die drei gemeinsamen Kinder gehen noch zur Schule. Plötzlich stehen sie auf dem Prüfstein der „Firma Horch und Guck“. Weil Tochter Britta nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns einen seiner Liedtexte an die Wand gepinnt hat, soll sie nun der Schule verwiesen werden. Sie geht freiwillig und schließt sich einem Zirkus an. Schwieriger wird es für Sohn Erik, der studieren will. Ohne sich schriftlich von Britta zu distanzieren, wird das kaum möglich sein. Erik unterschreibt. Von nun an hat Sohn Matti, seinem Bruder nicht mehr viel zu sagen.
Birk Meinhardt erzählt in seinem bei Hanser erschienenen Roman Brüder und Schwestern eine Familiengeschichte, die zwischen 1973 und 1989 angesiedelt ist. Fünf Jahre nach Uwe Tellkamps Der Turm erhalten wir ein DDR-Gesellschaftsporträt, das sich weniger um die Eliten des Landes dreht, sondern um den Alltag der sogenannten kleinen Leute. Drucker, Lehrer, Maschinisten, Schüler, Floristen, Zirkusleute und Bahnwärter werden dabei begleitet, wie sie ihren Platz in einem diktatorischen Überwachungsstaat finden. All das geschieht auf so humorvolle und ironische, anspruchsvolle und anschauliche Weise, dass es nicht überrascht, Meinhardts Roman auf der Shortlist zum diesjährigen Leipziger Buchpreis zu finden.
Anpassung statt Aufbruch
„Die meisten Menschen atmeten flach. Wie Schildkröten zogen sie ihren Kopf ein, wenn der Wind ihnen die noch heißen, teils glutäugigen Kohlerückstände entgegenwirbelte, die sie morgens in rostigen Aschekästen vor sich hertrugen, um sie in die Mülltonnen zu kippen. Und so beließen sie danach ihre Köpfe, so, fast halslos, verharrten sie. Eine farblose Ruhe umschloss sie wie Gelatine.“
„Aufbruch“ oder „Fortschritt“ heißen die Gaststätten und Betriebe. Doch das sind längst nur noch leere Worte, in der DDR herrscht Stillstand. Und in „ständiger Angst davor aufzufallen und Fragen zu stellen“, sind die Menschen schlapp und müde. Wie die junge Lehrerin Karin Werth. „Der Gedanke, (...) mit den Schülern nicht offen über die Widersprüche im Lande reden zu dürfen, der Gedanke einer mächtigen Dreieinigkeit aus Heuchelei, Phrasendrescherei und Schurigelei unterworfen zu sein, war ihr mittlerweile unerträglich.“ Was tun, wenn man erkennt, dass etwas zu Ende ist? Wer passt sich dennoch an, wer widersteht, wer flieht, wer trickst und wer glaubt noch an die Überwindung des Stillstands? Am ehesten tut das Matti, der ein bisschen so wie Goethes Werther ist.
Hoffnungslos ernsthaft lebt er die Sehnsucht nach seiner unerreichbaren Deutschlehrerin und verfolgt ein weiteres Ideal: Er glaubt an die DDR, aber verachtet ihre Methoden. Um mit Wolf Biermann zu sprechen, ist er derjenige, der am liebsten wegginge und doch am liebsten bleibt. Matti findet seine Nische und schippert als Kahnfahrer übers Binnengewässer. Von Skizzen Dostojewskis zu Der Idiot inspiriert, verfasst er einen Roman und erzählt von einem Kind, das im Gefängnis sitzt und seine Anlagen nicht entwickeln kann. Eine Parabel. Das Buch wird in Westdeutschland gedruckt. Und dann stirbt der Vater. Wie es mit allen anderen nach 1989 weitergeht, ist unklar. Meinhardts 700-Seiten-Epos ist deutlich erkennbar als Fortsetzungsroman angelegt.
Schnörkelloser Gesellschaftsroman
Dem 1959 in Ostberlin geborenen Autor, (Sport-)Journalisten und Kisch-Preisträger gelingt es in seinem nunmehr dritten Roman, das Leben in Zeiten sozialistischer Mangelwirtschaft unterhaltsam zu schildern, mit Hang zur Kapitalismuskritik und ebenso unverhohlener Darstellung des unmenschlichen Systems, dabei immer mit Liebe zu seinen Figuren und deren Dialekt. Da geht es mit Peter Schott und Männel schon mal zum Fußballgucken in den Schankraum: „Ditt isn Ausdruck unserer Liebe zum englischen Fußball. Union is Juneitett, und Union spielt ooch so. Kick and Rasch, sagen wir Fachleute dazu. Ehrlicherweise muß ick zujeben, daß ditt nur bedeutet, daß wa die Bälle hinten rausdreschen und vorne uffn lieben Jott hoffen. Denett, wie man ja weeß, leider nich jibt.“
Zuweilen kann man dem Autor eine gewisse Plauderhaftigkeit vorwerfen und eine Neigung zum übertrieben Originellen, manchmal zu einer gewissen Sozialromantik. Dann aber beweist er wieder eindrucksvoll, dass es für einen deutschen Gesellschaftsroman keine „Tellkamp’schen Schachtelsätze“ braucht. Der Autor schreibt mittenmang und hält es schnörkellos. Und genau darum geht es ja auch in diesem Buch: Schluss mit dem Aufbauschen.
Brüder und Schwestern Birk Meinhardt Hanser Verlag 2013, 704 S., 24,90 €
Peggy Neidel stammt aus Zwickau. Sie schreibt Lyrik und Prosa und ist Mitbegründerin des Literaturclub Düsseldorf
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