Ein genialer Autor schreibt einen „kosmosschweren“ Endzeitroman. Eine pessimistische Abrechnung mit dem Menschengeschlecht, das einem durchaus so manchen gutgelaunten, prächtigen Sommertag vermiesen kann. Zum Glück ist längst Herbst und der im Februar bei Hanser erschienene Roman steht auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2013.
Denn dem Büchnerpreisträger Reinhard Jirgl ist mit Nichts von euch auf Erden ein literarischer Grenzgänger gelungen, ein herrlich anstrengender Jirgl-Wahnsinn mit orthografischen und inhaltlichen Kapriolen, unfassbar und unfassbar nervtötend zugleich. Die einen vermuten erschöpft, Jirgl stecke „knietief in Galle und Bitternis“ (Die Zeit), die anderen loben es zu Recht als „Buch mit visionä
isionärer Kraft“ (Süddeutsche).Mond rast auf Erde, wumms„In=Wahrheit: !Nichts hinter dieser Wahrheit. !Garnix. (...) – :od auch das ist Nichts als 1 anderlautender? Irrtum. Tiefe tiefste Ratlosigkeit...“ Einst flog ein Teil der Menschheit zum Mars, „Terraforming“ auf einem anderen Planeten als Ausweichmanöver zum Erhalt einer ausgebeuteten Erde. Nun wollen die Marsianer zum einstigen Heimatplaneten zurück. Auf dem mittlerweile aufgrund eines Gendefekts Menschen leben, die nach nichts mehr streben, denen vielmehr „Atem=Schöpfen u freies Sein“ oberste Priorität ist. Selbst die Fortpflanzung hat an Reiz verloren.Den mit ihren weiß geschminkten Gesichtern an Theatermasken erinnernden Erdlingen ist jedoch auch jegliches Interesse an der Welt abhandengekommen. Zugunsten des allwährenden Friedens, ist hinzuzufügen, und nach sokratischer Erkenntnis: „Sorge dich ausschließlich um dein Selbst, dann erweist du der Allgemeinheit den größten Dienst!“ Man strebt lediglich noch hin zu Einem: dem Tod. Der „Rückkehrwille zur anorganischen Todes=Ruhe als der ursprünglichste An-Trieb zum Leben“. Jirgl nennt dies Detumeszenz, übersetzt das Abschwellen einer Geschwulst, bisweilen die „erste wirklich gelungene Menschheitsrevolution“.Sich den „schwarzen Aus=Geburten des-Fortschritz“ zu verweigern, klingt verlockend, zynischerweise hilft diese Revolution in Jirgls Roman nur eben nicht. Denn wenn es drauf ankommt, ist niemand mehr zu rebellieren fähig. Die Marsianer können ohne Gegenwehr mit ihrem Umgestaltungsprogramm beginnen, die Verweichlichten wieder zu „dienstbaren Körpern“ formen, die Geldwährung erneut einführen. So die Pläne des in flammendes Rot gehüllten Mars-Hitlers, der mit schneidender Stimme zu den belämmerten Erdlingen spricht. Eigentlich ist es auch egal, denn der Mond rast auf die Erde, wumms, alles futsch. Bis dahin muss der Leser 470 Seiten Jirgl-Sprech verdauen, hinzu kommen 35 Seiten Anmerkungen von der Marsbeauftragten Io 2034 sowie ein detailliertes Verwaltungsstrukturschema der Marsstadt Cydonia. In einem Interview mit Jirgl fragt der Kritiker Denis Scheck, weshalb die Welt enden muss. Die Menschheit sei doch einmal genug, antwortet der Autor. „Wenn Sie den anthropozentrischen Standpunkt einmal verlassen, haben Sie plötzlich eine Vielfalt von Lebensweisen vor sich, die es heute in dieser Form gar nicht gibt.“Jirgls Dystopie über Gier, Krieg, Unterdrückung, Leben und Tod ist stilistisch als auch inhaltlich ausufernd. Der Autor changiert blitzschnell zwischen Geschichte, Realität, einer möglichen Zukunft und düsterer Endzeitvision, durchzogen von zahlreichen Bibelzitaten und philosophischen Überlegungen. Vor allem taucht die deutsche Geschichte, flackern Bilder von Deportation, Völkermord und Vertreibung immer wieder auf.Jirgl wurde 1953 in Ostberlin geboren, wuchs jedoch bis zu seinem elften Lebensjahr nahe des so genannten „Todesstreifens“ in Salzwedel bei der Großmutter auf, einer Vertriebenen aus dem Sudetenland. Der Ich-Erzähler mit dem Namen BOSXRKBN 181591481184-E beschreibt das Gefühl der Heimatlosigkeit. „Weder Hierher noch Dorthin, weder zum Mars noch zur Erde – ich gehöre Nirgendwo hin.“Jirgl, dessen Bücher zu DDR-Zeiten aufgrund „nichtmarxistischer Geschichtsauffassung“ nicht gedruckt wurden, legt auch in diesem Buch einen Schwerpunkt auf den Themenkreis von Emigration und Rückkehr. Er verzieht sich ins Sprachlabor, köchelt und experimentiert dort mit Worten herum, dass es nur so faucht. Perspektive und Ton wechseln je nach Lage. Mal nüchterne Beamtensprache, pathetische Prosa, Sprechtexte, merkwürdig ritualisiert klingende Dialoge, Abschnitte ohne Punkt und Komma oder eben zuviel von alledem: Das ist Jirgls kompromissloser Stil. (Machten ihm Heiner Müller und Arno Schmidt Mut?)Weltraumdröhnen im Kopf!„Ich schreibe nicht, um in einem etablierten Ordnungssystem unterzukommen, eher umgekehrt geht es mir darum, aus den Wirklichkeiten des Ich und des Außen, diesem Konflikt- und Spannungsfeld des Menschen, meine eigene textuelle Ordnung (...) zu (er)finden“, sagt der Autor selbst.Auch schert sich Jirgl nicht um Linearität und um Handlung nur mäßig. Der arme Leser! Der tolle Autor, dessen Vorstellungskraft und kapriziöser Sprachrausch immer im Mittelpunkt stehen. Kritisieren mag man ihn nicht für diesen Eigensinn, der in der zeitgenössischen Literatur hierzulande schließlich allzuoft fehlt.Aufgrund technischer Möglichkeiten schreiben sich in Jirgls Welt die so genannten biomorphologischen Bücher selbst fort. Weshalb sie vernichtet werden sollen. Doch ausgerechnet das Buch, dessen Untergang heute viele heraufbeschwören, hat Bestand. Die Menschheit ist längst fort, die Bücher dagegen schreiben „für=andere-Bücher den Roman einer Zukunft“. Jirgls Roman als Hommage an das gedruckte Wort, den bleibenden Speicher menschlicher Erinnerungen. Was von Jirgls Roman bleibt, ist ein metallischer Geschmack im Mund und ein Weltraumdröhnen im Kopf. Dieses Buch ist ein literarisches Raumschiff, staunend und erschöpft schaut man hinauf, schenkt Ehre und Preis. Dann rauscht Jirgls dunkles Flugobjekt hinfort, in weit entfernte Gefilde.
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