Abgaskatharsis

Diesel-Skandal Die Erregung über die jüngst enthüllten Experimente ist nur stellvertretend. Der eigentliche Grund zur Empörung wäre der Abgas-Skandal, den wir Tag für Tag erleben
Die Versuchsanordnung in Lebensgröße bleibt einfach weiter bestehen
Die Versuchsanordnung in Lebensgröße bleibt einfach weiter bestehen

Foto: imago/Gottfried Czepluch

Aristoteles schrieb über die Tragödie, sie sei die „Nachahmung einer ... in sich geschlossenen Handlung, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt." Ist es frivol, die derzeitige Berichterstattung über Menschen- und Tierversuche der Automobilindustrie als kathartische Versuchsanordnung zu beschreiben?

Zu den Fakten: Eine Lobbyorganisation der Automobilindustrie, die „Europäische Forschungsvereinigung für Umwelt und Gesundheit im Transportsektor" (EUGT), hatte Versuche an Affen (in den USA) und an Menschen (an der RTWH Aachen) in Auftrag gegeben, um zu demonstrieren, dass die Schadstoffbelastung durch den Stickstoffdioxidausstoß eines modernen Dieselmotors unbedenklich sei.

Nun sind derartige Versuche weder neu noch ungewöhnlich. Und die jetzt skandalisierten Versuche wurden bereits im September 2016 in einem Untersuchungsausschuss zum Dieselskandal im Bundestag zur Sprache gebracht; von einem Toxikologen, Helmut Greim, der, so das Handelsblatt, nicht nur „Mitglied der Enquete-Kommission des deutschen Bundestages zum ‚Schutz des Menschen und der Umwelt'“ war und dafür von Bundesumweltministerin Barbara Hendricks (SPD) einen Orden bekam. Sondern auch Beiratsvorsitzender ebenjener EUGT, die die Versuche in Auftrag gegeben hatte.

Damals hatte keiner der anwesenden Politiker an Mensch- und Tierversuch Anstoß genommen. Was ist jetzt anders? 16 Monate später werden die Experimente von der New York Times bekanntgemacht, und in deutschen Medien aufgegriffen, im Tonfall der Erregung: MENSCHENVERSUCHE der deutschen Autobauer! Es distanzieren sich die Autokonzerne, es distanziert sich die Kanzlerin (die Versuche seien „ethisch in keiner Weise zu rechtfertigen", sagte ihr Sprecher, und: „Die Empörung vieler Menschen ist absolut verständlich"), es erregt sich der Boulevard, fast könnte man glauben, es sei weithin unbekannt, dass Kosmetika und Pharmazeutika tagtäglich in teilweise sehr viel problematischeren Versuchen an Tieren und Menschen getestet werden. VW-Chef-Lobbyist Thomas Steg muss sogar erst einmal seinen Hut nehmen.

Die Wut galt eigentlich dem Diesel-Skandal

Natürlich sind die Abgas-Experimente zumindest deswegen völlig hanebüchen, dass VW et al. damit die Unbedenklichkeit eines Dieselmotors beweisen wollten, der in der realen Welt gar nicht zur Anwendung kam – wegen der Schadsoftware, dem eigentlichen Skandal. Die Affen atmeten Abgase eines VW-Beetles im Testmodus ein, dessen gedrosselte Werte auf der Straße niemals erreicht werden.

Es entlädt sich also an den Experimenten die Wut, die dem Dieselskandal galt, aber sich dort in Grenzen hielt: Weil das alles so abstrakt war? Oder weil die Angst überwog, der Diesel müsse fortan in der Garage stehen bleiben?

Ist es dann am Ende nicht doch so, dass wir uns über Experimente erregen, und zugleich unseren sehr viel schmutzigeren Diesel munter weiter fahren? Dass wir, anhand einer „in sich geschlossenen Handlung, die Jammer und Schaudern hervorruft", uns von derartigen Erregungszuständen reinigen, während die Versuchsanordnung in Lebensgröße, mit echten Menschen und viel dreckigeren Dieseln, bestehen bleibt?

Kathartisch wäre das gewiss. Die Luft allerdings, sie bliebe dreckig.

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Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

Pepe Egger

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