Der erste Verhandlungstag im Verfahren wegen gewerbsmäßigen Bandenbetrugs vor dem Landgericht Potsdam beginnt mit zweistündiger Verspätung. Ein Schöffe hat verschlafen, sich verfahren oder mit der Uhrzeit vertan, jedenfalls ist er hier im Saal 8, wo er sein sollte, nicht aufzufinden.
Alle anderen haben schon ihre Plätze eingenommen: Die drei Richter und zwei Staatsanwälte, die Gerichtsschreiberin, die Zuschauer und selbst die fünf Anwälte der drei Angeklagten, die mit ihren Rollköfferchen einen beeindruckenden Einzug in den Saal hingelegt hatten, bevor sie ihre Aktenordner ausgepackt – die Anklageschrift ist so dick wie ein Telefonbuch –, ihre Laptops eingestöpselt und sich die schwarzen Togen übergeworfen haben. Ärgerlich ist die Verspätung, aber auch geeignet – während alles wartet und nichts passiert –, sich in Erinnerung zu rufen, worum es hier eigentlich geht: Immerhin geht es vielleicht um den letzten Fall von „Vereinigungskriminalität“, der noch vor einem Gericht gelandet ist.
Die beiden Hauptangeklagten, zwei Hamburger, brachten es 1998 fertig, dass die Treuhand ihnen das nach Sanssouci zweitgrößte Schloss Brandenburgs, die Burg Boitzenburg in der Uckermark, für eine D-Mark schenkte. Sie brachten es weiter fertig, dass ihnen daraufhin die ILB, die Investitionsbank des Landes Brandenburg, und andere staatliche Stellen mehr als 30 Millionen Euro an Subventionen dafür ausbezahlten, das Schloss zu renovieren. Geld, das sie gar nicht hätten bekommen dürfen. Doch wären sie damit fast davongekommen, hätten sie nicht selbst – nach einem buchhalterischen Missgeschick – 2004 Insolvenz angemeldet, obwohl sie gar nicht pleite waren.
Der Schöffe ist immer noch nicht aufgetaucht. Was man so macht, wenn man wartet: Man schaut nach links, schaut nach rechts, schlägt die Zeit damit tot, sich die Zuschauerreihen genauer anzusehen. Als da sitzen: Zwei Journalistinnen und zwei Journalisten, die sich gerade vom Gerichtssprecher noch einmal die Feinheiten des Verfahrens erklären lassen (die Kollegin vom RBB wird vom „bisher größten Fördermittelskandal in der Geschichte des Landes Brandenburg“ sprechen). Ins Blickfeld geraten ein Anwalts- und ein Gerichtspraktikant, ein korpulenter, jovialer Politiker mit rotem Gesicht, von dem später die Rede sein wird, schließlich ein Rentner aus Boitzenburg.
Die Kleinen hängt man
Der trägt eine braune Freizeitweste über dem karierten Hemd und gibt bereitwillig Auskunft, es gibt ja sonst gerade nichts zu tun. Die Schlossgeschichte kennt er aus erster Hand: Er weiß noch von der Familie von Arnim, deren „Stammsitz“ Boitzenburg von 1537 an bis zur Enteignung im Jahr 1946 war. Ein Onkel sei mit einem Sohn des letzten Grafen noch im Krieg gewesen. Zu Ostzeiten habe dann die Nationale Volksarmee (NVA) die Anlage übernommen, als Erholungsheim, was bedeutete, dass man „da nie randurfte“. Selbst wenn man im See schwamm, konnte man beim Schloss nicht aus dem Wasser steigen. Nach der Wende stand das Gebäude leer, bis es die Treuhand 1998 an „den E.“, einen der beiden Hauptangeklagten, verkauft habe.
Der Rentner findet es gut, was aus dem Schloss geworden ist, renoviert, mit Kinderhotel und Marstall. Touristen kämen, Schüler auf Klassenfahrt – Hochzeiten, „so was eben“. Er spricht nicht ohne Stolz vom „Neuschwanstein des Ostens“. Viele hofften ja, dass der Hauptangeklagte E., der bis heute in Boitzenburg wohnt, diesmal in den „festen Bau“ geht. Nicht bloß offener Vollzug wie nach dem letzten Verfahren. Wie sich herausstellt, zitiert der Mann „den Buschfunk“. E. ist schon einmal wegen Vereinigungskriminalität verurteilt worden, es ging um zwei Treuhand-Schlösser in Sachsen-Anhalt, vier Jahre und sechs Monate, aber eben: offener Vollzug.
Was weiß der Buschfunk sonst noch? Dass der E. „von drüben“, also von Hamburg, in die Uckermark gekommen ist. Bei der Renovierung seien bis zu 100 ABM-Kräfte – vom Arbeitsamt gestellt – im Schloss beschäftigt worden: „Die wurden nie bezahlt!“ Da irrt der Buschfunk, das können wir jetzt schon sagen. Was aber nichts daran ändert, dass der Rentner nicht verstehen kann, „dass da nicht draufgeguckt wurde“. Bei 30 Millionen Euro! Warum wurde der Betrug nicht bemerkt? „Oder sind da alle geschmiert worden?“, frage er sich. Da müsse man doch denken: „Die Kleinen hängt man, und die Großen lässt man laufen.“
Es mag konstruiert wirken, aber da wird von der Zuschauerbank her etwas angesprochen, was die Gemüter bewegt: Ist es nicht an der Zeit, die Geschichte der Nachwende und besonders der Treuhand endlich aufzuarbeiten? Zum Beispiel mit einer „Wahrheitskommission“, wie es der sächsische SPD-Chef Martin Dulig verlangt? Geschenkt, dass ein solcher Vorschlag von CDU-Seite reflexhaft abgewehrt wird. Worum es dabei gehen sollte, dafür könnte das „Neuschwanstein des Ostens“ als Beispiel dienen. Im Gerichtssaal wird nämlich – als der Schöffe endlich eintrudelt – die Sitzung sowieso gleich wieder vertagt. Auf nach Boitzenburg also!
Schon allein der Herbstfarben wegen lohnt sich der Ausflug: Die Uckermark leuchtet gelb und rot, der Himmel blau, darunter das weiße Schloss mit allerlei Zinnen, Türmchen und Gauben. Man denkt eher an ein Landschulheim mit Trauerweiden und Schwänen am See als an ein Luxusresort. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite liegt der „gräfliche Marstall“, wo Kuchen für Touristen fortgeschrittenen Alters serviert wird.
Es stellt sich heraus: Boitzenburg ist ein Dorf. Man grüßt sich hier, wenn man einander begegnet. E., der Hauptangeklagte, habe nie gegrüßt, sagen die einen. Die anderen holen weiter aus: Mit Wessis im Goldrausch habe man auch hier des Öfteren zu tun gehabt, damals, nach der Wende: Ganoven, in schwarzen Anzügen und großen Hüten, die hier in ihren dunklen Mercedes-Limousinen vorgefahren seien. Aber so einer – so einer sei der E. nicht gewesen.
Die Großen lässt man laufen
Vor dem Kebab-Laden in Boitzenburg sitzen am Vormittag zwei Männer in Freizeitflecktarn und trinken Bier. Ansonsten noch erwähnenswert: ein Plattenbau, vor dem ein junges Mädchen ihr Baby im Schatten parkt, um sich eine Kippe anzustecken, dazu ein Fachwerkhaus hinter der Kirche und ein älterer Mann mit Hörgerät, der als Erstes sagt: „Ist doch alles schön hier!“ Und dann: „Ein Kleiner wäre schon längst drinnen gelandet, im Knast, aber ein Großer? Da sehen Sie, wie das läuft.“
„Hier wird es schwierig für Sie sein“, prophezeit eine ältere Dame. „Niemand wird mit Ihnen reden.“ Und: „Einer, der weiß alles. Aber der wird Ihnen nichts sagen.“ Es geht um alte Geschichten, um Kriegsgewinnler und Wendeverlierer. Jeder kennt hier jeden. Um wirklich durchzublicken und zu erreichen, dass sich jemand mit Namen hinstellt, die Fakten auf den Tisch legt, wäre, so scheint es, ein Recherchezeitraum von mindestens einem Monat zu veranschlagen.
Im Fernsehen, sagt die Boitzenburgerin (gemeint ist der RBB), habe es geheißen, die Leute hier interessierten sich nicht mehr für die Sache mit dem Schloss und dem Subventionsbetrug. Aber das stimme nicht. Sie bekomme da gleich „so einen Hals“. Es sei hier eher so, dass die Leute ihre Ruhe haben wollten. Neulich, zum Beispiel, da hätten zwei Jugendlichen den Zigarettenautomaten neben dem Getränkeladen gesprengt. Es krachte also, die Splitter flogen nur so durch die Gegend. Aber niemand in der Nachbarschaft rief die Polizei, „obwohl die beiden ja noch mal zurückkamen, um die Kippen aufzusammeln“.
Die Treuhand? Abgewickelt
Nach einem halben Tag Recherche weiß man zwar nur lückenhaft Bescheid, aber eines steht fest: Eine Wahrheitskommission wäre in Boitzenburg keine schlechte Idee. Allein wegen der Gerüchte: Warum hat der E. damals von der Treuhand Liegenschaftsgesellschaft den Zuschlag bekommen? Man weiß es nicht, also kursieren allerlei Unterstellungen: „Der hatte doch was mit der Frau von der Treuhand“, sagt der eine und der andere: „Der muss ganz oben jemand gekannt haben.“ Interessant wäre es schon, genau zu erfahren: Wie lief das damals bei der Treuhand, die Schloss Boitzenburg für eine D-Mark verscherbelt hat?
Siehe da, es gibt sie noch, die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft. Nur heißt sie heute TLG Immobilien AG, ist privatisiert und börsennotiert. Die größten Aktionäre sind ein Hedgefonds auf den Kaiman-Inseln und der Staatsfonds von Singapur. Anruf beim Pressesprecher: Mit der Treuhand habe man nichts mehr am Hut, sagt der sinngemäß. Es gebe kein Archiv, keine Akten, keine Verträge, fast keine Mitarbeiter mehr von damals, die TLG Immobilien AG könne bei der Aufklärung also nicht helfen. Man solle sich doch an die Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben (BvS) wenden, die sei Nachfolgeorganisation der Treuhand.
Doch auch die BvS muss passen: Sie ist inzwischen selbst abgewickelt worden, hat 2000 ihre „operativen Tätigkeiten“ eingestellt. Ihr Büro in der Schönhauser Allee in Berlin wirkt fast schon virtuell, die Niederlassung einer Behörde, die es nicht mehr gibt. Nachfragen leitet man an das Bundesarchiv weiter. Dort steht alles, was von der Treuhand noch übrig ist: 45 Kilometer Akten, die erst seit 2016 langsam aufgearbeitet werden. Für 30 Jahre gesperrt, laut Bundesarchivgesetz, auf Antrag kann die Schutzfrist verkürzt werden.
Am fünften Verhandlungstag zum Verfahren wegen gewerbsmäßigen Bandenbetruges bevölkern im Landgericht Potsdam bloß noch vier Zuschauer den Saal. Es ist Freitagnachmittag, draußen auf dem Gang wünscht man sich ein schönes Wochenende, als der Hauptangeklagte E. sein Geständnis verlesen lässt: Ja, er habe die Investitionsbank des Landes Brandenburg betrogen, habe Eigenkapital vorgetäuscht, das es gar nicht gab. Ja, er habe Schloss Boitzenburg mit dem zu Unrecht erhaltenen Geld der ILB renoviert, habe überhöhte Rechnungen vorgelegt, Baukosten von fast zehn Millionen Euro abgerechnet, die so nicht existierten. Es ist so, als betreibe E. seine kleine, private Wahrheitskommission. Er bekennt sich in einem von fünf Anklagepunkten schuldig und kann auf Strafnachlass rechnen. Das Gericht seinerseits erspart sich einen Wettlauf gegen die Verjährung, zu dem das Verfahren sonst geworden wäre.
Der Mann, den die Medien nach wie vor „Investor“ nennen, hat offenbar wenig bis gar nichts investiert, denn die Einführung der Marktwirtschaft in Boitzenburg war hochgradig staatlich subventioniert und dazu nur äußerst mangelhaft überwacht.
Wenn all das als Grund für die Aufarbeitung nicht reichen sollte, dann gibt es hier noch einen letzten: Der joviale, korpulente Herr, Sie erinnern sich vielleicht, der in der ersten Verhandlung saß? Es ist Herr Wiese, Potsdamer Landtagsabgeordneter für die AfD. Der interessiert sich dafür, „wie das damals war“, er meint die 1990er, aber vorher sei es ja nicht anders gewesen, wer weiß, was er meint? Die DDR, die Treuhand? Alles ein und dasselbe? Wir wollen ihn nicht danach fragen, es ist ja einerlei. Aber wenn eine Geschichte schon dermaßen mieft, dass sie die AfD anzieht, dann wäre es für die Wahrheit höchste Zeit.
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