Seit ich 2011 nach Deutschland gezogen bin, nach Berlin, dachte ich des Öfteren: Och, das ist doch übertrieben, diese Bewachung. Die beiden Beamten vor der jüdischen Schule in der Brunnenstraße. Der einsame Polizist vor dem Leo-Baeck-Haus in der Tucholskystraße. Ich dachte: Das ist doch heute mit keiner realen Gefahr mehr zu begründen. Wie falsch, oder: wie ignorant meine Einschätzung war, kapierte ich erst am 9. Oktober 2019.
Denn dass der Attentäter von Halle daran gescheitert ist, ein Massaker anzurichten, an betenden Jüdinnen und Juden an Jom Kippur, im Jahr 2019, das lag nicht am Schutz durch den deutschen Staat, sondern allein an einer Holztür. Sie verhinderte die Ermordung von zehn, zwanzig, vielleicht dreißig Jüdinnen und Juden.
Nach dem Anschlag gaben Mitglieder der Gemeinde an, man habe in der Vergangenheit um Polizeischutz gebeten, die Behörden hätten diesen aber versagt, denn: Es liege keine akute Bedrohung vor. Man könnte annehmen, dass zumindest dies nun ein für alle Mal geklärt ist: Die akute Bedrohung liegt schon darin, heutzutage als Jude oder Jüdin in Deutschland zu leben.
Doch so weit sind wir offensichtlich noch nicht. Wir sind immer noch bei der Politik des „Woanders“, wie sie der sachsen-anhaltinische Innenminister und dortige CDU-Vorsitzende Holger Stahlknecht vertritt. Nach dem Anschlag in Halle sagte er: Hätte ein Streifenwagen vor der Synagoge gestanden, dann wäre der Täter wohl weitergefahren und hätte den Anschlag woanders verübt. Vergangenen Freitag besuchte Stahlknecht die Polizeiinspektion Dessau. Einem Zeitungsbericht zufolge erklärte er dort, die verstärkte örtliche Bewachung jüdischer Einrichtungen führe in Dessau zu monatlich 1.500 Arbeitsstunden zusätzlich, die „woanders“ fehlen würden. Weswegen es sein könne, dass die Polizei nun nicht mehr bei jeder Anforderung pünktlich zur Stelle sei.
Zwei Tage nach Stahlknechts Äußerung versuchte ein Mann vor einer Hamburger Synagoge, einen jüdischen Studenten mit einem Spaten zu erschlagen.
Wenn ich dieser Tage an der Synagoge in der Oranienburger Straße vorbeifahre, denke ich: Some Cops Might Be Bastards, aber Some Are also grundgesetztreue Helden, die sich in langen Winternächten frierend die Beine in den Bauch stehen.
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