Deutschland, du Bedrohung

Antisemitismus Jüdinnen und Juden sind in Deutschland nicht sicher. Mehr Sicherheitskräfte will die Politik trotzdem nur zähneknirschend bereitstellen
Ausgabe 41/2020
Polizisten vor der Hamburger Synagoge in der Straße Hohe Weide am Tag nach dem Anschlag
Polizisten vor der Hamburger Synagoge in der Straße Hohe Weide am Tag nach dem Anschlag

Foto: Chris Emil Janßen/Imago Images

Seit ich 2011 nach Deutschland gezogen bin, nach Berlin, dachte ich des Öfteren: Och, das ist doch übertrieben, diese Bewachung. Die beiden Beamten vor der jüdischen Schule in der Brunnenstraße. Der einsame Polizist vor dem Leo-Baeck-Haus in der Tucholskystraße. Ich dachte: Das ist doch heute mit keiner realen Gefahr mehr zu begründen. Wie falsch, oder: wie ignorant meine Einschätzung war, kapierte ich erst am 9. Oktober 2019.

Denn dass der Attentäter von Halle daran gescheitert ist, ein Massaker anzurichten, an betenden Jüdinnen und Juden an Jom Kippur, im Jahr 2019, das lag nicht am Schutz durch den deutschen Staat, sondern allein an einer Holztür. Sie verhinderte die Ermordung von zehn, zwanzig, vielleicht dreißig Jüdinnen und Juden.

Nach dem Anschlag gaben Mitglieder der Gemeinde an, man habe in der Vergangenheit um Polizeischutz gebeten, die Behörden hätten diesen aber versagt, denn: Es liege keine akute Bedrohung vor. Man könnte annehmen, dass zumindest dies nun ein für alle Mal geklärt ist: Die akute Bedrohung liegt schon darin, heutzutage als Jude oder Jüdin in Deutschland zu leben.

Doch so weit sind wir offensichtlich noch nicht. Wir sind immer noch bei der Politik des „Woanders“, wie sie der sachsen-anhaltinische Innenminister und dortige CDU-Vorsitzende Holger Stahlknecht vertritt. Nach dem Anschlag in Halle sagte er: Hätte ein Streifenwagen vor der Synagoge gestanden, dann wäre der Täter wohl weitergefahren und hätte den Anschlag woanders verübt. Vergangenen Freitag besuchte Stahlknecht die Polizeiinspektion Dessau. Einem Zeitungsbericht zufolge erklärte er dort, die verstärkte örtliche Bewachung jüdischer Einrichtungen führe in Dessau zu monatlich 1.500 Arbeitsstunden zusätzlich, die „woanders“ fehlen würden. Weswegen es sein könne, dass die Polizei nun nicht mehr bei jeder Anforderung pünktlich zur Stelle sei.

Zwei Tage nach Stahlknechts Äußerung versuchte ein Mann vor einer Hamburger Synagoge, einen jüdischen Studenten mit einem Spaten zu erschlagen.

Wenn ich dieser Tage an der Synagoge in der Oranienburger Straße vorbeifahre, denke ich: Some Cops Might Be Bastards, aber Some Are also grundgesetztreue Helden, die sich in langen Winternächten frierend die Beine in den Bauch stehen.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 25% Rabatt lesen

Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

Pepe Egger

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden