Von Ueshiba Morihei, dem Begründer der japanischen Kampfsportart Aikidō, ist der Ausspruch überliefert: „In einem Wald aus feindlichen Speeren / Umzingelt / Begreife, dass diese Speerspitzen / dein Schild sind.“
Sawsan Chebli, 42, macht Politik wie Aikidō. Sie schafft es nicht nur, Dinge, die für andere ein Handicap wären, als Chance zu nutzen. Ihr gelingt es auch – Ueshiba wäre stolz –, die Kraft des politischen Gegners, die Wucht seines Angriffs, umzuleiten und gegen ihn selbst zu wenden.
Roland Tichy durfte das zuletzt erfahren: Eben veröffentlichte der rechtskonservative Journalist noch eine als Satire getarnte Verunglimpfung von Chebli („Was spricht für Sawsan? … Befreundete Journalistinnen haben bislang nu
haben bislang nur den G-Punkt als Pluspunkt feststellen können“), da flog ihm die Sache schon selber um die Ohren. Chebli postete die Passage auf Twitter mit dem Kommentar: „Ein besonders erbärmliches, aber leider alltägliches Beispiel von Sexismus gegen Frauen in der Politik.“ Woraufhin CSU-Staatssekretärin Dorothee Bär aus Protest ihre Mitgliedschaft in der Ludwig-Erhard-Stiftung kündigte, weil Tichy dort Vorsitzender sei. Gesundheitsminister Jens Spahn stellte seine Mitgliedschaft ruhend, weitere Distanzierungen folgten. Am Ende musste Tichy seinen Vorsitz abgeben. Sawsan Chebli aber, die eigentlich Angegriffene, hatte gewonnen.Als sie beim Interview davon erzählt, macht Chebli kurz die Siegerfaust. Vor allem freut sie sich, dass Dorothee Bär und sie gemeinsam sich gegen Tichy durchgesetzt haben. Dass die beiden sich verstehen, geht auf ein Zeichen der Solidarität in umgekehrter Richtung zurück: Als Bär einmal wegen eines Auftritts in einem Latexkleid Häme geerntet hatte, war ihr Chebli zur Seite gesprungen.Chebli ist derzeit in Elternzeit, sie hat im Mai einen Sohn bekommen. Zugleich bewirbt sie sich um die Aufstellung als SPD-Kandidatin für die Bundestagswahl 2021. Sie tut das in ihrem Wahlkreis Charlottenburg-Wilmersdorf in Berlin. Und sie tut das gegen Michael Müller, den Regierenden Bürgermeister, Cheblis Chef also, der sie 2016 zur Staatssekretärin für bürgerschaftliches Engagement und Internationales gemacht hat. Ob auch gegen Müller ihr politisches Aikidō wirken wird?Sawsan Chebli wurde 1978 in Berlin geboren, als zweitjüngstes von 13 Kindern. Ihre Eltern sind Palästinenser, 1948 aus ihrer Heimat geflüchtet, danach bis 1970 im Flüchtlingslager im Libanon untergekommen. In Berlin war Cheblis Familie jahrzehntelang nur geduldet, Sawsan selbst ein staatenloses Flüchtlingskind, bis sie und ihre Familie 1993 eingebürgert werden. Es ist Cheblis Gnade der späten Geburt: Für sie als Zweitjüngste kommt die Einbürgerung gerade noch rechtzeitig. Während ihre älteren Geschwister nicht studieren, teilweise noch nicht mal eine Ausbildung absolvieren durften, macht sie Abitur, studiert Politikwissenschaft, tritt in die SPD ein und fängt an, sich als Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik, für die arabische und islamische Welt, einen Namen zu machen.Dass sie aufgrund ihrer Biografie Arabisch spricht und selbst Muslima ist, ist bis dahin eine Zusatzqualifikation, aber nicht wirklich ein Thema. Das wird es erst, als der damalige Außenminister Frank-Walter Steinmeier sie zu seiner stellvertretenden Sprecherin im Auswärtigen Amt macht.Eigentlich ist es ihr Job, den Standpunkt des Auswärtigen Amts nach außen hin zu vertreten und selbst dabei unsichtbar zu bleiben. Man kann sagen, dass das nicht wirklich geklappt hat. Denn es stellt sich heraus: Chebli selbst ist interessant. Sie fällt auf, sie fällt heraus. Das ist seitdem so geblieben. In allem, was sie macht, auch wenn das, was sie auszeichnet, oft vor allem ein Manko ihrer Umgebung ist.Weil im Auswärtigen Amt alle weiß und die meisten obendrein Männer waren, weil die anderen Sprecher ihre diplomatischen Stanzen im näselnden Ton der Regierungsbeamten in dritter Generation vortrugen: Da musste Chebli herausstechen, wie sie da auf der Bühne der Bundespressekonferenz saß. Genauso geht es ihr als Staatssekretärin in Berlin und jetzt als mögliche Kandidatin für die SPD. Oft muss sie gar nichts tun, nicht „Politik machen“, also Gesetze durchbringen, Reden halten, um die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken: Ihre Person, ihre Biografie, ist schon politisch, von ganz alleine. Das sehen übrigens sowohl jene, die sie unterstützen, so, als auch die, die sie ablehnen, bekämpfen und mit Hass überschütten.Man kann vermuten, dass sie darunter ebenso leidet, wie sie davon profitiert: Weil die Inhalte, derentwegen sie Politik macht, notgedrungen zu kurz kommen müssen, wenn sich alle vor allem auf sie und ihre Vita konzentrieren. Eigentlich, sagt Chebli, sei sie leidenschaftliche Außenpolitikerin, sie brenne für die Stärkung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, die Gleichstellung von Mann und Frau, für Bildung und den Kampf gegen Rechts. Totzdem steht in Medienberichten über sie oft ihre Person im Fokus. Auffallend dabei ist, dass das, was Journalist:innen an Chebli interessant finden, sich über die Zeit verändert. Anfangs war sie die „Palästinenserin im Berliner Innensenat“, dann die „Muslima" im Auswärtigen Amt, einmal das Flüchtlingskind, dann wieder die Migrantin. Heute – da sie gegen Berlins Regierenden Bürgermeister Müller antritt – wird sie vor allem als Frau gelesen. Das gehe doch nicht, gegen den eigenen Chef antreten, hieß es aus ihrer Partei, da sie ihm doch ihren Job verdanke. Ihr fehle es an Demut. Chebli drehte das um: „Warum soll ich bitte demütig sein?“, habe sie gedacht. Einem Mann hätte man diese Frage nie gestellt.Als sie letzten Sonntag in die Oper geht, zu Wagners Walküre, schreibt sie auf Twitter: „Bin keine Wagnerianerin, aber eins fällt auf: In seinem Werk verstricken sich die Männer ständig in Lügen, Machtspiele und falsche Versprechungen. Die Frauen durchschauen von Anfang an, was läuft, und müssen das Theater ertragen.“
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