Vielleicht ist Katrin Rohnstock einfach jemand, der besonders gut zuhören kann. Oder aber jemand, der weiß: Es gibt so viele Geschichten, Lebensgeschichten, die ungehört bleiben, unerzählt. Dagegen kämpft Rohnstock an, mit genug Mut und Tatkraft, dass sie daraus einen Beruf gemacht hat (erfunden, eigentlich, den der „Autobiografikerin“) und ein Unternehmen, Rohnstock Biografien. Katrin Rohnstock kann aber auch erzählen, so schwungvoll, dass ein Gespräch mit ihr unerwartete Wendungen nimmt.
der Freitag: Frau Rohnstock, ich wollte mit Ihnen über das gute Leben sprechen, wie Sie …
Katrin Rohnstock: Wenn ich Sie kurz unterbrechen darf: In der Lausitz gibt es jetzt die Chance, im Zuge des Strukturwandels ein gutes Leben für alle möglich zu machen.
Ja, die Kommission für den Kohleausstieg hat dazu kürzlich ihren Zwischenbericht abgegeben.
Genau. Als ich den Zwischenbericht las, dachte ich: Ich sollte der Kohlekommission mal unsere Erfahrungen vorstellen. Ich habe die Menschen der Lausitz kennengelernt durch zwei Erzählprojekte. Das erste haben wir 2015/16 gemacht, mit Unterstützung der damaligen Ost-Beauftragten der Bundesregierung. Es hieß „Lausitz an einen Tisch“. In fünf Orten haben wir mehr als vierzig Erzählsalons auf die Beine gestellt, in denen um die 500 Menschen ihre Geschichte erzählten.
Wie kam es dazu?
Iris Gleicke hatte 2015 den Industrieatlas für den Osten vorgestellt, worin stand: Der Osten stagniert ökonomisch und all die Fördermillionen sind in den Wind geschossen, wenn sie nicht an den Potenzialen der Ossis anknüpfen. Da dachte ich: Wir können die schlummernden, verborgenen Potenziale der Ossis sichtbar machen. Also schlug ich Frau Gleicke vor, Erzählsalons zu veranstalten, in denen sich die Menschen ihre Geschichte erzählen und so ihre Erfahrungen reflektieren. Übrigens haben wir dabei eng mit dem IBA-Studierhaus kooperiert.
Zur Person
Katrin Rohnstock , 58, geboren in Jena, studierte Germanistik und Kulturwissenschaften. 1984 wurde sie wegen oppositionellen Verhaltens exmatrikuliert und musste sich drei Jahre „in der Produktion bewähren“, bevor sie ihr Studium abschließen durfte. 1998 gründete sie ihre Firma „Rohnstock Biografien“, die heute mehr als 30 Mitarbeiter hat. Ihr aktuelles Projekt: die Gesprächsreihe „Wirtschaft erzählt“ zu Themen wie Eigentumsformen, Planung und Wettbewerb
Verstehe. Aber wie sind wir jetzt auf die Erzählsalons gekommen, ah, wegen der Lausitz und der Kohlekommission.
Richtig. Ich denke, die Kommission sollte die Erzählsalons kennenlernen: Mit dieser Methodik können wir Menschen zusammenbringen und ermutigen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Das haben wir bei „Lausitz an einen Tisch“ gelernt: Wenn die Vergangenheit auserzählt ist, werden die Leute aktiv und wollen etwas bewirken. Der Geschäftsführer der Strukturentwicklungsgesellschaft im Rheinischen Revier, Jens Bröker, sagte, nachdem er die in unseren Salons erzählten Geschichten gelesen hatte: „Wenn ich eine Region verstehen will, muss ich die Menschen und ihre Geschichten kennen.“
Das Verständnis der Leute in der Kohlekommission ist wahrscheinlich, Erzählen ist eher eine Sache der Verarbeitung, ein Werkzeug, um Dinge aufzuarbeiten, nachdem sie passiert sind?
Genau. Das ist zu kurz gegriffen. Der eigentliche Sinn, warumMenschen Vergangenheit erzählen, ist: die Probleme der Gegenwartzu bewältigen und die Zukunft zu denken. Erzählen schlägt eineBrücke zwischen Vergangenheitsbewältigung und Zukunftsvision.
Wie würden Sie sich denn das vorstellen, was man mit dem Einsatz von Erzählsalons in der Lausitz ausrichten könnte?
Zum Beispiel könnten wir die gemeinschaftliche Gründung von Hunderten von Dorfkonsums oder Gaststätten anregen. Denn die privat zu betreiben, rentiert sich nicht mehr. Diese sind aber nicht nur für das Zusammenleben im Ort wichtig, sondern sie beleben auch den Regionalmarkt. In Marga ist durch regelmäßige Erzählsalons eine Bürgerinitiative entstanden, die ein Bürgercafé aufbauen wollte. In unserem zweiten Projekt „Erfahrungen und Potenziale im LausitzLab“, das eine Idee von Henryk Fischer, dem Staatssekretär im Brandenburgischen Wirtschaftsministerium, war und von diesem auch finanziertwurde, haben wir Unternehmer beim Strukturwandel begleitet. Leider lief das Projekt nur ein Jahr,bei mehrjähriger Laufzeit könnten wir die Ideen bis zur Umsetzung begleiten. Über fünf bis zehn Jahre könnten auf diese Weise mehrals 2.000 Arbeitsplätze geschaffen werden.
So wie Sie das beschreiben, ist die „Schlüsseltechnologie“ des Erzählsalons eine zukunftsgewandte Sache, nicht nur ein Aufwärmen alter Geschichten.
Na klar! Simone de Beauvoir bringt es auf den Punkt: „Wenn wir nicht wissen, woher wir kommen, wissen wir auch nicht, wohin wir gehen.“ Der Erzählsalon ist unsere „Schlüsseltechnologie“, das Psychosoziale und das Wirtschaften miteinander zu verbinden.
Wie haben sie das Konzept des Erzählsalons eigentlich entwickelt? Ich habe gelesen, Sie hätten damit an eine jüdische Tradition angeknüpft?
Wenn wir diese Verwurzelung in der Tradition nicht hätten, wäre es nur Pillepalle wie beim World-Café oder Bürgerdialog, die bleiben oberflächlich und flüchtig. Als ich 1998 meine Firma gegründet hatte, kamen oft alte Leute zu uns, die ihre Geschichten bewahren wollten. Die hatten kein Geld, um sie aufschreiben zu lassen, ich wollte ihnen aber ermöglichen, ihre Erinnerungen zu erzählen. Also suchte ich ein Veranstaltungsformat, und fand es in der jüdischen Tradition.
Verstehe.
Ja, ich war mit einem Theologen befreundet. Der erzählte mir von der Tradition in manchen jüdischen Familien, am Sabbat nach dem Gottesdienst gemeinsam zu essen. Dabei erzählt man nacheinander, was man in der Woche erlebt hat. Das habe ich für mein Format aufgegriffen, habe experimentiert, bis es funktionierte. Ich habe die Erzähler gefragt: Was wollt ihr thematisieren? Das war oft der Krieg und das Kriegsende.
Gibt es dabei feste Regeln?
Ja, es gibt eine Salonnière, die achtet auf die Einhaltung. Die wichtigste ist: Jeder hört jedem zu, es wird keiner unterbrochen, keine Geschichte wird kommentiert. Wenn jemand kein Ende findet, muss die Salonnière ihn unterstützen, einen Punkt zu setzen. Das Erstaunliche dabei ist: Die Leute lernen sich sehr gut kennen und verstehen. Meine erste Erzählsalon-Gruppe übergab ich vor 15 Jahren an eine Bibliothekarin. Die begleitet die immer noch.
Haben Sie sich dafür auch mit Psychologie oder Psychoanalyse beschäftigt?
Ich arbeitete nach dem Abitur ein Jahr im Fachlesesaal für Psychologie und fand bei den Psychologen Freunde. Sie sind quasi meine Privatuniversität. Ich hab aber immer gesagt: „Das Erzählen ist tausende Jahre alt, eure Psychologie 100 Jahre!“ Die Psychologie entwickelte sich, weil die Industrialisierung zwischenmenschliche Beziehungen erschwert. Es ist ja richtig, diesen Defiziten mit Therapien zu begegnen. Aber nun kommen wir in eine postindustrielle Phase und können zusammenbringen, was die Industrialisierung auseinanderdividiert hat: Hier sind die Leistungsfähigen – dort sind die Nicht-Leistungsfähigen.
Erzählen ist eine gemeinschaftsstiftende Sache, aus der etwas Neues entsteht, sagen Sie.
Bei „Lausitz an einen Tisch“ gingen wir in Lauchhammer mit den Opas aus dem Traditionsverein zu den jugendlichen Punkrockern. Die haben einander ihre Geschichten erzählt und kamen auf die Idee, gemeinsam zu musizieren – am Fuße des Industriedenkmals „Biotürme“, das belebt werden soll.
Zurück zum guten Leben: Mich interessiert Ihr Versuch, von der DDR zu lernen, oder anders gesagt: Erfahrungen aus der DDR zu retten. Das müssen wir für dieses Interview jetzt mit der Lausitz zusammenbringen.
Von der DDR lernen, heißt komplex denken lernen (lacht). Das habe ich von den Kombinatsdirektoren gelernt und bei den Ingenieurinnen und Ingenieuren in der Lausitz wiedergefunden: Gibt es ein Problem, wird so lange getüftelt, bis es gelöst ist. Diese Problemlösungskompetenz mussten sie sich in der DDR aneignen, denn es gab ja ständig Probleme. Diese kompetenten Facharbeiter, Meister und Ingenieure verloren nach der Wende ihre Jobs. Nicht mehr gebraucht zu werden, das war für die meisten Horror. Nur: Sie werden ja gebraucht! Ihre fachlichen Kompetenzen und regionalen Kenntnisse sind bei der Bewältigung des Strukturwandels notwendig. Die Menschen werden innovative Lösungen für alle Probleme finden, wenn sie nur gefragt und einbezogen werden. Für mich ist das gute Leben, dass eben nicht mehr die einen 50 Stunden arbeiten und die anderen gar keine Arbeit haben. Das hat mit der Eigentumsform zu tun – wenn man genossenschaftlich produzieren würde, könnte man ganz andere Arbeitszeiten einführen. Wenn zehn Leute so einen kleinen Laden betreiben, dann kann, wer Kinder hat, die auch gleichzeitig betreuen. Oder die Oma betreut sie. Das ist das gute Leben, dass man Muße hat. Alles, was zum Fordismus gehört, was dem Prinzip „Zeit ist Geld“ unterworfen ist, wird hässlich.
Aber wie würde sich so eine Genossenschaft finanzieren?
Es muss ja nicht jeder Geld verdienen. Die Alten, die Rente bekommen, können gemütlich Kuchen backen. Es geht jabeim Arbeiten nicht nur um Geld,es geht auch um eine sinnvolleAufgabe, um Anerkennung und um Gemeinschaft.
Dachten Sie in der DDR eigentlich, dass dort das gute Leben existierte?
Uns hat das Politische gefehlt. Wir wollten uns demokratischbeteiligen und die Gesellschaft mitgestalten. Das ging nicht. Aber ansonsten waren wir frei vonExistenzangst, frei von Angst vor Altersarmut. Wir mussten nicht ums Überleben kämpfen. Das ist aus heutiger Sicht Luxus. Zumguten Leben gehören aus meiner Sicht existenzielle Sicherheit und soziale Beziehungen. Wenn ich Marx zitieren darf: „Der Reichtum eines Menschen besteht im Reichtum seiner sozialen Beziehungen.“
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