Die Sozialistin und der Millionär

Interview Unternehmer Josef Rick und Linken-Chefin Katja Kipping diskutieren über fehlende Steuergerechtigkeit, Lobby-Mythen und das Klassenbewusstsein der Reichen
Ausgabe 05/2020
Die Sozialistin und der Millionär

Foto: H. Armstrong Roberts/Getty

Im Jahr 2019 hat der Bund einen Rekordüberschuss von 13,5 Milliarden Euro erzielt, immer lauter tönen seitdem – von Friedrich Merz bis zu Dietmar Bartsch – die Rufe nach Steuersenkungen. Zugleich nimmt die Ungleichheit rapide zu, weil die Vermögen schneller wachsen als die Löhne. Es bräuchte also mehr Umverteilung als bisher, nur: Kann das deutsche Steuersystem das alles überhaupt noch leisten?

der Freitag: Herr Rick, Sie haben jahrelang nur sehr wenig Steuern gezahlt, Schlupflöcher gefunden. Haben Sie sich davor gedrückt?

Josef Rick: Hab ich mich gedrückt? Das ist ein hartes Wort. In der Tat habe ich in den 1990er Jahren bei sehr opulentem Einkommen null Euro Steuern zahlen müssen. Einen meiner alten Steuerbescheide habe ich noch, von 1996, da steht oben beim Einkommen eine große siebenstellige Zahl und unten: Sie schulden dem Staat null DM Steuern. Nachdem ich das zwei, drei Jahre mit einem ausgeschlafenen Steuerberater so praktiziert habe, dachte ich: Das kann doch eigentlich nicht sein. Und es ist auch nicht okay. Ich musste dafür nicht tricksen und betrügen, wie bei Hoeneß, das war alles ganz legal.

Die ganz normale „Steueroptimierung“.

Rick: Ja, ich hab mich dann umgehört und festgestellt, das machen von denjenigen, die ein hohes Einkommen haben, zwar nicht alle so, aber wahrscheinlich ein ganz großer Anteil. Statistiken darüber gibt’s nicht: Wir wissen zwar über Menschen, die ein geringes Einkommen haben, viel, aber fast nichts über die, die zu den oberen ein Prozent gehören. Im Moment zahle ich wieder mehr Steuern, aber prozentmäßig immer noch viel weniger als Menschen um mich herum, die ein viel kleineres Einkommen haben. Das ist völlig absurd.

Sie nennen diese Situation den „Steuerfeudalismus“.

Rick: Das ist tatsächlich wie im Mittelalter: Die Adligen, die arbeiten nicht, sondern kassieren bloß, aber sie bestimmen wo’s langgeht. Heute kann die finanzielle Oberschicht für sich selbst festlegen, wie viel sie dem Staat geben will.

Frau Kipping, wie beurteilen Sie ein Steuergebaren wie jenes von Herrn Rick?

Katja Kipping: Mein Ansatz ist es nicht, auf die moralische Schiene zu gehen oder zu sagen, das muss der Einzelne lösen. Sondern in einer Demokratie ist es die verdammte Aufgabe von gewählten Parlamenten und der Regierung, dafür zu sorgen, dass das Steuersystem gerecht funktioniert. Dazu gehört auch, dass man nicht einfach platt fordert, Steuern runter!, sondern deutlich sagt, wer steuerlich entlastet werden soll und wer mehr bezahlen soll. Derzeit ist es so, dass ein Normalverdiener, der acht Stunden und länger pro Tag Lohnarbeit leistet, recht schnell einen hohen Steuersatz zahlen muss. Aber die Steuerkurve hört dann dort auf zu steigen, wo es interessant wird. Und wer sein Einkommen nicht durch Lohnarbeit verdient, hat dann noch ganz andere Möglichkeiten, sich arm zu rechnen.

Frau Kipping, ist Steuergerechtigkeit ein Thema, mit dem man viele Menschen erreichen kann? Oder politisch eher ein schwieriges Thema?

Kipping: Mein Hauptarbeitsfeld im Bundestag war und ist die Sozialpolitik. Aber da muss man sich immer automatisch auch mit Steuern beschäftigen: Wenn wir was gegen Kinderarmut tun möchten oder uns fragen, wie wir einen ordentlichen Klimaschutz hinkriegen, sind wir ja immer gleich bei der Frage: „Wie wird das finanziert?“ Deswegen ist das Thema Steuergerechtigkeit zentral. Wir können in keinem Politikfeld ohne eine wirkliche Umverteilung die notwendigen Maßnahmen in Angriff nehmen. Sowohl die Alltagsnöte der Menschen als auch die großen Zukunftsaufgaben kriegen wir nur in den Griff, wenn wir ein gerechteres und besseres Steuersystem haben.

Für viele Politiker ist die Steuerpolitik ja so was wie ein notwendiges Übel: Man möchte gestalten, Dinge verändern, dafür braucht man Geld, und erst da ist man dann beim Steuerthema.

Kipping: Ich würde es nicht nur als ein notwendiges Übel bezeichnen. Inzwischen wissen wir: Je reicher ein Haushalt ist, desto größer ist sein ökologischer Fußabdruck, einfach wegen der schieren Menge des Konsums. Deswegen ist oberhalb eines gewissen Grades Steuergerechtigkeit, also Reichtumsbegrenzung, auch eine wichtige Maßnahme für den Klimaschutz.

Herr Rick, Sie sagen, die Reichen zahlen gar nicht so viel Steuern, wie sie uns immer erzählen. Sind das alles Märchen?

Rick: Allerdings! Wenn wir überlegen: Wir haben ein Volkseinkommen von ungefähr 3,3 Billionen Euro. Dagegen steht ein Steueraufkommen von rund 750 Milliarden Euro, davon machen die Steuern auf Einkommen und Ertrag im allerweitesten Sinne 350 Milliarden aus. Wenn wir das Volkseinkommen, die 3,3 Billionen, durch die 350 Milliarden gezahlten Einkommenssteuern teilen, landen wir bei ungefähr 10 Prozent. Kennen Sie jemanden, der Vollzeit arbeitet und nur 10 Prozent Einkommenssteuer zahlt?

Na ja, viele Menschen zahlen gefühlt einen Durchschnittssatz von 30 Prozent, und wenn man es mal durchrechnet, sind es dann doch nur 12 Prozent.

Rick: Okay, die allermeisten zahlen wahrscheinlich irgendetwas zwischen 15 und 18 Prozent. Aber wenn ich einen Durchschnitt von 10 Prozent habe, muss es auch jemanden geben, der weniger als 10 Prozent zahlt, oder? Wo sitzen die? Oben natürlich. Anders geht das gar nicht, als wenn von denen, die große Einkommen haben, auch ganz viele weniger als 10 Prozent zahlen, sonst geht die Rechnung nicht auf. Das ist Grundschulmathematik. Darüber müssten wir uns unterhalten! Ob wir jetzt den Spitzensteuersatz von 42 Prozent auf 45 oder 52 Prozent erhöhen, ist zweitrangig. Wenn erst mal alle die, die mehr als eine Million verdienen, einen effektiven Steuersatz von 35 Prozent auf ihr Einkommen zahlen würden, da müsste Olaf Scholz anbauen, so viel Geld kann er gar nicht annehmen!

Ein Einwand, der an dieser Stelle oft zu hören ist: Wenn alle mit einem Einkommen über eine Million 35 Prozent Einkommenssteuer zahlen müssten, tja, dann sind die eben weg.

Rick: Na klar, das Steinbrück’sche Argument: lieber 25 Prozent von X als 42 Prozent von nix. Aber als Finanzminister ist das doch Kapitulation vor der Aufgabe! Ein Finanzminister ist doch in Deutschland als Allererstes dafür zuständig, dass er die Steuern einnimmt. Übrigens auch die, die hinterzogen werden: jedes Jahr zum Beispiel 25 Milliarden Euro, die durch Umsatzsteuerbetrug verloren gehen.

Kipping: Zu der Frage der Millionäre, die dann mal weg sind: Ich bin nach wie vor ein großer Fan des Modells einer Steuerstaatsbürgerschaft. Das heißt, wer seinen Wohnsitz in ein anderes Land verlagert, der muss dann zumindest die Differenz zwischen dem, was er hier an Einkommenssteuer bezahlen müsste, und dem, was er woanders bezahlt, die müsste er dann überweisen. Wer das nicht macht, verliert die Staatsbürgerschaft und damit natürlich auch gewisse Rechte und Möglichkeiten. Ich glaube, das würde deutlich was verändern. Mir ist natürlich schon bewusst, dass je reicher jemand ist, desto größer auch die Möglichkeiten sind, sich zu drücken. Aber Politik ist auch nicht wehrlos.

Zur Person

Katja Kipping, geboren 1978 in Dresden, ist seit 2005 Bundestagsabgeordnete und seit 2012 mit Bernd Riexinger Vorsitzende der Partei Die Linke. Ob sie im Juni ein weiteres Mal für den Parteivorsitz kandidiert, wollte sie beim Gespräch mit Josef Rick noch nicht verraten

Gegen eine andere Art der Steuervermeidung scheint die Politik aber oft ziemlich zahnlos zu sein: nämlich jene der großen global agierenden Konzerne wie Apple, Amazon und Facebook. Die sind imstande, die Regeln so für sich auszulegen, dass sie in Deutschland fast gar keine Steuern zahlen.

Kipping: Im Fall der Digitalsteuer hat sich die deutsche Bundesregierung tatsächlich nicht mit Ruhm bekleckert, sondern Macron einfach im Regen stehen lassen. Es wäre was anderes, wenn die EU oder zumindest die wirtschaftlich starken Länder mit einer Stimme gegenüber den USA aufgetreten wären. Im Grunde gibt es ja zwei klassische Tricks, mit denen Steuern vermieden werden: Ein Unternehmen wie Apple schafft sich eine Tochterfirma mit Sitz in einem Land wie Irland, wo es sehr niedrige Steuersätze gibt. Auf die Umsätze, die Apple in Deutschland macht, fällt dann aber fast keine Gewinnsteuer an, weil die Apple-Tochter in Deutschland an die Apple-Tochter in Irland eine hohe Lizenzgebühr abführt. Hier könnte natürlich eine nationale Steuergesetzgebung dazwischengrätschen, indem sie eine Grenze an Kosten setzt, die man als Betriebsausgabe abzugsfähig machen kann. Die zweite Sache ist wie bei Google das Argument, dass ein Unternehmen, das zwar in Deutschland unglaublich viel Gewinn macht, indem es Werbung an deutsche Kunden verkauft, deren Wert sich aus den Daten der deutschen Nutzer speist, dass so ein Unternehmen aber in Deutschland keine Steuern zahlt, weil es hier keinen Sitz und keine Betriebsstätte hat. Das heißt, da müsste man ebenfalls das Steuerrecht dem digitalen Zeitalter anpassen: Es könnte so etwas geben wie eine virtuelle Betriebsstätte, und man guckt, wo findet überhaupt die Wertschöpfung statt? Wo werden Daten eingespeist, wofür zahlen Werbekunden? Auch davor sind die deutschen Finanzminister in der Vergangenheit immer zurückgeschreckt. Das ist am Ende fehlender politischer Wille, nicht fehlende Machbarkeit.

Herr Rick, was müsste geschehen, damit so etwas möglich wird?

Rick: Ich bin kein Politiker, ich kann Ihnen nicht erklären, warum das nicht umgesetzt wird, was offensichtlich geboten ist. Das ist alles dermaßen evident, da muss man keine weitere Minute drüber nachdenken, sondern einfach nur machen. Das Modell der Steuerstaatsbürgerschaft, das Frau Kipping vorschlägt, das gibt es auch in den USA: Die sind an der Stelle total schmerzfrei und sagen, solange du einen amerikanischen Pass hast, zahlst du hier auch Steuern. Und wenn einer seinen Pass abgeben will, was möglich ist, dann kostet das eine Exit-Tax, im Moment ist die glaube ich 20 Prozent auf dein Vermögen, dann kannst du gehen. Das akzeptiert da jeder, auch jeder Reiche. Was im Umkehrschluss heißt, bei uns in Deutschland fehlt einfach der politische Wille, so etwas zu tun.

Hat das auch damit zu tun, dass es in Deutschland Organisationen gibt, die sich aktiv dafür einsetzen, dass die Dinge so sind, wie sie sind? Stichwort Bund der Steuerzahler?

Rick: Sicher. Das sind teilweise auch Leute, die unsere Beiträge bekommen, etwa der Chef der Industrie- und Handelskammer von Düsseldorf, wenn ich den höre! Ein ehemaliger Vorstand der Trinkaus und Burkhardt Bank. Es ist klar, dass der als Lobbyist agiert, genau wie „Die Familienunternehmer“ oder der „Bund der Steuerzahler“. Die haben alle das gleiche Ziel. In einer freien Gesellschaft kann es solche Organisationen natürlich geben, aber man sollte sie auch als solche deklarieren: Das sind alles Organisationen, die für das obere eine Prozent agitieren. So wie Christian Lindner immer für die Apotheker, Notare und Hotelbesitzer agitiert, das ist wunderbar, die sollen ihn wählen. Aber wer nicht Apotheker, Notar oder Hotelbesitzer ist, bei dem versteh’ ich das nicht.

Kipping: Offensichtlich ist das Klassenbewusstsein bei den Superreichen noch intakt. Vielleicht bräuchte es mehr Klassenbewusstsein bei denjenigen, die nicht zum obersten einen Prozent gehören. Das Problem ist, dass selbst die existierende Steuergesetzgebung nicht immer konsequent angewendet wird. Da gäbe es ein ganz einfaches Mittel, nämlich die Aufstockung von Betriebsprüfern: Ein Betriebsprüfer beim Bund bringt jedes Jahr zwischen 1,3 und 1,5 Millionen Euro zusätzliche Steuereinnahmen. Absurderweise ist aber derzeit zu beobachten, dass die Zahl der Betriebsprüfer zurückgegangen ist.

Als Steuerzahler hofft man ja gemeinhin, dass einem das Finanzamt vom Hals bleibt. Eine Aufstockung der Beamten dort mag aufs Erste bedrohlich wirken, tatsächlich wäre sie für die allermeisten aber wohl von Vorteil, wenn der Staat so mehr Einnahmen erzeugt und also auch mehr Geld verteilen könnte?

Kipping: Das stimmt. Allerdings wäre es wichtig, dass all diese Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Finanzämter auch eine entsprechende Instruktion von der Spitze des Hauses bekommen, die da nicht heißt: Guckt bei den Ärmsten der Armen, beim kleinen Bäcker oder Spätibesitzer, sondern: Guckt mal dort, wo es um besonders viel Geld geht. Es gibt Staatsanwälte, die sind darauf spezialisiert, zu überprüfen, ob jemand, der Sozialleistungen bezieht und dann zum Beispiel eine Rücküberweisung aus der Betriebskostenabrechnung bekommt oder mal einen kleinen Job hat oder so, ob der dann vielleicht zehn Euro zu wenig zurückgezahlt hat. Dann wird ein Ordnungswidrigkeitsverfahren in die Wege geleitet. Da sind Leute voller Energie und Akribie dahinter. Wenn die mit derselben Akribie dorthin gingen, wo das große Geld ist, das wäre echt hilfreich.

Rick: Ich sehe das genauso. Ich erinnere mich an einen Artikel, den ich im letzten Herbst gelesen habe, da wurde festgestellt, wir haben 17 Millionen Euro Hartz-IV-Rückforderungen in einem Jahr. Und am nächsten Tag las ich über den Cum-Ex-Skandal: Da hatten Vermögensanleger sich die Kapitalertragssteuer rückerstatten lassen, die sie gar nicht bezahlt hatten. Da stand als Schadenssumme auch 17, allerdings waren das 17 Milliarden, also tausend mal so viel! Dazu kommt: Wir haben sieben Millionen Menschen in Deutschland, die von Hartz IV betroffen sind, wenn man Kinder und Aufstocker dazuzählt, aber nur 40.000 Menschen, die überhaupt von ihrem Einkommen und Vermögen in der Lage sind, einen Betrug wie Cum-Ex auszuhecken. Und die haben 17 Milliarden Euro Schaden angerichtet!

Kipping: Die bittere Ironie ist ja auch, dass für die 17 Millionen an Sozialleistungsrückforderungen aber 60 Millionen Verwaltungskosten entstanden sind.

Frau Kipping, ich würde Sie gerne auf den Vorstoß Ihres Parteifreundes und Bundestags-Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch ansprechen, der zusammen mit FDP-Chef Christian Lindner Steuersenkungen gefordert hat.

Kipping: Das ist jetzt aber arg verkürzt, da muss ich für Dietmar in die Bresche springen. Er hat eigentlich was anderes gesagt.

Verstehe. Nun, so wurde es aber berichtet, selbst von der dpa: Dietmar Bartsch fordert zusammen mit Christian Lindner Steuersenkungen. Ist das nicht ein gefährliches Spiel? Da stand dann: Fast vier Millionen Deutsche zahlen den Spitzensteuersatz von 42 Prozent, da schlackern mir schon die Ohren. 1,5 Millionen davon sind Durchschnittsverdiener etc. pp. Man muss bis zum siebten Absatz weiterlesen, wo dann tatsächlich auch steht, dass Herr Bartsch sagt, wir wollen die Durchschnittsverdiener entlasten und die Reichen höher besteuern, aber das ging natürlich unter. Bleibt da nicht am Ende hängen „Steuern runter“? Christian Lindner sagt das ja jeden Tag.

Kipping: Die Überschrift hat mich selbst auch erst mal überrascht, aber wenn man sich die Originalpressemitteilung und die Aussagen von Dietmar Bartsch angeguckt, dann ist das genau das, womit wir auch im Wahlkampf unterwegs waren: Wir wollen alle bis zu einem monatlichen Bruttoeinkommen von 7.000 Euro entlasten, und die, die mehr verdienen, müssen dann auch mehr bezahlen. Es ist die Frage, wie sauber das von der Presse dargestellt worden ist. Ich bin in solchen Fällen dazu übergegangen, zu sagen, ich rede entweder von Steuergerechtigkeit oder nenne die einzelnen Fälle, anstatt abstrakt zu sagen, Steuern rauf oder Steuern runter.

Zur Person

Josef Rick, geboren in Münster, war früher Unternehmensberater bei BCG und ist jetzt Immobilienunternehmer. Rick war einmal in der Jungen Union, aber als er seine Positionen zu Steuern im TV vortrug, fragte ihn Sandra Maischberger, ob er Mitglied der Linken sei

Die Geschichte ging dann ja noch weiter. In der dpa-Meldung und daraufhin überall stand noch: 1965 musste man den 15-fachen Durchschnittslohn verdienen, um den Spitzensatz zu zahlen. Heute greift er schon beim 1,5-fachen. Es fehlte aber die Information, dass der Spitzensatz im Jahr 1965 bei 56 Prozent lag und heute bei 42 Prozent liegt. Was hier beklagt wird, ist im Grunde das Resultat einer Steuersenkung.

Kipping: Das stimmt, über solche Zusammenhänge wird nur wenig gesprochen. Dazu kommt auch, dass diese 42 Prozent, von denen die Rede ist, die zahlt man ja nicht auf das gesamte Einkommen, sondern das betrifft für die allermeisten nur einen sehr kleinen Teil ihres Einkommens, auf das sie die 42 Prozent bezahlen. Es gibt eine Art des ökonomischen Analphabetismus, der natürlich auch gezielt befeuert wird. Lobbyinstitutionen, wie die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die kommen da immer mit Grafiken, wo du den Eindruck hast, wir müssen jetzt sammeln für die Millionäre, weil es denen so schlecht geht.

Ich lese in der „taz“, dass Sie, Herr Rick, bei der SPD „ein flammendes Plädoyer“ für eine Wiederbelebung der Vermögenssteuer gehalten haben, was dort zu „leuchtenden Augen“ geführt hat. Frau Kipping, haben sich die Chancen für einen Kurswechsel in der Steuerpolitik erhöht, seit in der SPD Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans Parteivorsitzende sind, und eben nicht Olaf Scholz?

Kipping: Ich finde es sehr ermutigend, was man bisher von der neuen SPD-Spitze hört. Im Fall von Norbert Walter-Borjans kann man sagen, das ist nicht nur eine andere Rhetorik, die er anschlägt, sondern er hat ja damals als Finanzminister in Nordrhein-Westfalen wirklich eine andere Praxis an den Tag gelegt. Das muss man noch mal in Erinnerung rufen, er hat damals diese Steuer-CDs aus der Schweiz aufgekauft, mit Hinweisen dazu, in welchem Maße Steuerbetrug stattfindet. In dieser Frage stehen die beiden für einen anderen Kurs, und wie ich finde auch recht glaubwürdig. Natürlich ist die SPD ein umkämpftes Feld, da darf man sich nichts vormachen.

Wenn wir über Steuerpolitik sprechen, geht es ja im Grunde immer um eines, nämlich um Umverteilung. Wenn aber die Ungleichheit permanent zunimmt, weil Einkommen aus Vermögen schneller steigen als Einkommen aus Lohnarbeit, ist denn das Steuersystem überhaupt noch das Instrument, um da gegenzusteuern? Oder brauchen wir da stärkere Mittel – zum Beispiel Enteignungen?

Kipping: Wir müssen auch die Eigentumsfrage stellen, klar. Schon in der Mietenfrage haben wir gesehen, dass erst durch die Volksinitiative „Deutsche Wohnen und Co enteignen“ Kräfte freigesetzt wurden, die dann den Mietendeckel bewirkt haben. Umverteilung durch das Steuersystem ist für mich fundamental, aber in der Tat hört da mein Denken als demokratische Sozialistin nicht auf. Sondern man muss darüber hinaus schauen, inwieweit können wir auch andere Formen des Wirtschaftens stärken, man kann das nennen, wie man will, gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, postkapitalistische Morgenröte, Commons oder solidarische Ökonomien. Entscheidend ist, dass dabei nicht die Profitorientierung im Mittelpunkt steht, sondern die Gemeinwohlorientierung. Auch da könnten andere Regierungsmehrheiten was bewirken.

Na, Herr Rick, gehen Sie da noch mit?

Rick: Da würde ich widersprechen wollen. Die Vermögenssteuer ist aus meiner Sicht das Entscheidende, um überhaupt ein Minimum an Fairness in unserer Gesellschaft zu erhalten. Wenn Sie sich angucken, wie sich Vermögen entwickelt, dann sehen Sie, dass sich Vermögen – bei einer Rendite von zehn Prozent pro Jahr – über eine Generation, also 30 Jahre, versiebzehnfacht. So entwickelt sich Vermögen. Da müssen Sie auch gar nichts dafür tun. Ich sage, da müssen wir ansetzen, weil ich das richtiger finde als Enteignungen, dass wir über diese Art von Steuern reden, nämlich über eine Vermögenssteuer und eine richtige Erbschaftssteuer. Damit könnten wir zumindest 100 Milliarden Euro im Jahr einnehmen. Enteignungen würde ich punktuell auch befürworten, wenn jemand nämlich im Immobiliensektor aus spekulativen Gründen in innerstädtischen Lagen Häuser verkommen lässt oder Grundstücke nicht bebaut. Ansonsten würde ich eine richtige Vermögenssteuer einführen, damit wir hier einen gewissen Ausgleich haben, sonst fliegt uns alles um die Ohren.

Kipping: Ich dachte, wir sollten uns streiten, bei der Frage, aber Sie sind jetzt doch noch auf den Sozialismus eingebogen.

25 ganz legale Steuertricks

Schlau Das deutsche Steuersystem ist über die Jahre immer schiefer geworden. Wir stellen 25 Tricks vor, wie die Reichen wieder mehr zahlen – und alle davon profitieren

1 Steuern runter Für jene 50 Prozent der SteuerzahlerInnen, die weniger als 35.000 Euro brutto verdienen

2 Steuern rauf für Reiche 40 Prozent Steuersatz ab einem Einkommen von 100.000 Euro, ist das denn zu viel verlangt?

3 Und noch weiter rauf Der Spitzensteuersatz war 1988 bei 56 Prozent. Da kann er doch wieder hin

4 Bierdeckel fürs Bier Steuergerechtigkeit passt nicht auf ein Stück Karton – einen Euro pro Friedrich- Merz-Zitat an den Fiskus!

5 Steueroasen schließen Nicht nur die Kaiman-Inseln, sondern auch die Niederlande, Luxemburg und Irland

6 Kennzeichnungspflicht für Lobbyisten Bund der Steuerzahler, INSM & Co beim Namen nennen: 1-Prozent-Lobby

7 Gegenlobby gründen Eine Organisation, die immer, wenn der Bund der Steuerzahler oder die INSM zitiert wird, dagegenhält

8 Mehrwertsteuer senken Weil sie überproportional von den Ärmsten bezahlt wird; 2007 stieg sie von 16 auf 19 Prozent, dank GroKo

9 Erbschaftssteuer rauf Auf große Vermögen und Unternehmen darf ruhig wieder mehr gezahlt werden

10 Freibeträge erhöhen Von denen haben nämlich wirklich alle was, vom Niedriglöhner bis zur Millionärin

11 EU-Harmonisierung der Unternehmenssteuern Schluss mit Dumping: EU-Mindestgrenze für Körperschaftssteuern

12 Alle Share Deals abschaffen Nicht nur für Immobilien, sondern für jede Arten von Unternehmenskäufen

13 Her mit der Digitalsteuer Frankreich geht voran, die Bundesregierung darf nicht weiter vor Konzernen wie Amazon kuschen

14 Vermögenssteuer wieder einführen Ein Prozent auf alle Vermögen über eine Million Euro, das hilft der Staatskasse

15 Mehr Solidarität bei den Sozialbeiträgen Beitragsbemessungsgrenze rauf! Wer mehr verdient, kann auch mehr beitragen

16 Steuerflucht stoppen Wer nach Monaco zieht, um Steuern zu sparen, spielt dann mit seiner Staatsbürgerschaft

17 Deutsche Gemeinde-Steueroasen austrocknen Kein Dumping-Wettlauf zwischen Kommunen mehr bei der Gewerbesteuer

18 Eine echte Finanztransaktionssteuer Nicht das verwässerte Ding, das Olaf Scholz daraus machen will SUV-Sondersteuer für den

19 Gratis-ÖPNV Lockt deutsche Autobauer – damit sie auf Elektrobusse und Züge umsatteln

20 Ehegattensplitting abschaffen Im Jahr 2020 noch das Mann-Modell Ernährer zu bevorteilen, geht gar nicht

21 Soli erhöhen Die oberen 10 Prozent dürfen gern noch mehr Solidaritätsbeitrag bezahlen

22 Mehr Betriebsprüfer einstellen Jeder zusätzliche Prüfer bringt mehr Steuer einnahmen für alle

23 Weg mit der Schuldenbremse Investitionen bewirken Wachstum – und damit künftige Steuereinnahmen

24 Grundbesitzer sollen Grundsteuer zahlen Warum müssen Mieter sie zahlen? Umlagefähigkeit beschränken oder beenden!

25 Kapitalertragssteuer abschaffen Statt 25 Prozent Flatrate: Kapitaleinkommen progressiv besteuern

Zum Nachhören

Das Gespräch können Sie sich auch im Freitag-Podcast anhören

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

Pepe Egger

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