Ende einer Karriere

Nachruf Die „schwäbische Hausfrau“ dominierte die Politik. Nun wurde sie beerdigt – ausgerechnet von ihrer Erfinderin
Ausgabe 22/2020
Man mag sich einen Moment lang blenden lassen. Aber die Dame lag immer schon falsch
Man mag sich einen Moment lang blenden lassen. Aber die Dame lag immer schon falsch

Collage: der Freitag, Material: Armstrong Roberts/Classic Stock/Getty Images, iStock

Es ist Zeit, Abschied zu nehmen. Abschied zu nehmen von einer Zeitgenossin, die uns merkwürdig vertraut war: die uns begleitet hat in den letzten Jahren, mit der wir gerechnet und gerungen haben, obwohl niemand sie je persönlich angetroffen hat. Es ist Zeit, Abschied zu nehmen von der schwäbischen Hausfrau. Plötzlich und unerwartet hat sie uns verlassen. Gestern noch erfreute sie sich bester Gesundheit und strotzte vor symbolischer Kraft. Heute ist sie nicht mehr.

Dass hier ein Nachruf auf die schwäbische Hausfrau steht, zeugt von ihrer beispiellosen Karriere als Denkfigur und von ihrem Erfolg als diskursiver Macht. „Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben“, so hatte Angela Merkel 2008 die Logik der schwäbischen Hausfrau auf den Punkt gebracht. Schulden sind schlecht, sich zu verschulden ein Übel, kein Dauer- und schon gar kein Normalzustand. Rote Zahlen zu schreiben, das ist Anzeichen für Schwäche und mangelnde Leistungsfähigkeit und dafür, dass nicht gut gewirtschaftet wird.

Wenige Wochen einer globalen Pandemie mit verheerenden wirtschaftlichen Folgen genügten, um das komplette Gegenteil als Gebot der Stunde festzusetzen: Wer jetzt spart, handelt verantwortungslos; wer jetzt nicht Schuldenberge aufhäuft, verspielt die Zukunft. Seit das Virus grassiert, hagelt es überall Rettungspakete, Nachtragshaushalte, Neuverschuldung. Bald sollen ein schuldenfinanziertes Konjunkturprogramm und ein Wiederaufbaufonds in Höhe von 500 Milliarden Euro für die von der Corona-Pandemie am schwersten getroffenen Länder europäische Wirklichkeit werden. Das ist eine Wende um 180 Grad. Insbesondere der Wiederaufbaufonds, den Merkel gemeinsam mit Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron vorschlug, sprengt alle Dimensionen. Denn er soll aus Haushaltsmitteln bestehen, also nicht aus Krediten, die zurückgezahlt werden müssen. Finanzminister Olaf Scholz (SPD) zitiert jetzt sogar Alexander Hamilton, den ersten US-Finanzminister, dessen revolutionärer Schritt in der Einführung der „gemeinsamen Verschuldungsfähigkeit“ der USA bestanden habe: Größer könnte der Abstand zur schwäbischen Hausfrau nicht sein.

Bedingungsloser Glaube

Blicken wir auf die Karriere der „swabian housewife“ zurück, fällt als Erstes auf, wie kurz diese eigentlich war. Geboren in der Finanzkrise 2008, oft bemüht und zu internationaler Prominenz aufgestiegen in den Jahren der schwelenden Eurokrise; zu Grabe getragen in den haushaltspolitischen Verwüstungen, die die Corona-Pandemie anrichtet. Ja, auch sie gehört zu den Opfern des Sars-CoV-2-Virus, wurde hinweggerafft von der sich von Neuem verbreitenden Einsicht: Staaten können erhebliche Summen durch Verschuldung problemlos aufbringen. Diese Schulden geben ihnen die Möglichkeit, auf Krisen zu reagieren, Sinnvolles damit aufzubauen, zu stützen, über die Krise zu retten in bessere Zeiten. Sie können damit sogar den Grundstock legen für neues, nachhaltiges Wachstum. Und, am allerbesten, aber auch am schockierendsten für alle Anhänger der schwäbischen Hausfrau: Diese Schulden müssen nicht einmal zurückgezahlt werden.

Im Rückblick tritt klar hervor, was einige wenige immer wieder moniert hatten: Die Denkfigur der schwäbischen Hausfrau gründete auf einem Missverständnis. Sie lag immer schon falsch, und vielleicht speiste sich ja aus diesem Umstand ihre Kraft. Wer mehr ausgibt, als er verdient, der kann nicht zu Wohlstand kommen, der muss scheitern. So weit, so Binse. Was unter Berufung auf die schwäbische Hausfrau allerdings für ökonomische Entscheidungen getroffen wurden, das war fatal: als hätten sich auch Unternehmen oder ganze Staaten nach der Maxime „Schulden sind ein Übel, Pump ist Verderb“ zu richten.

Dabei ist klar: Ein Unternehmer, der ohne Kredit agiert, kann nicht investieren, seine Firma wächst nur in Zwergenschritten. Leiht er sich aber Geld, baut damit eine neue Werkshalle, stellt sie mit neuen Maschinen voll, hat er die Möglichkeit, Mehrwert zu schaffen. Die neue Werkhalle auf Pump erlaubt es, aus Materialien, die erst später bezahlt werden, Dinge herzustellen, durch deren Verkauf wiederum der Kredit abgetragen, neue Jobs geschaffen und zusätzliche Investitionen getätigt werden können.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem Staat. Leiht er Geld, kann er seine Infrastruktur pflegen und ausbauen, kann er in Bildung investieren, in Technologie. Mit einem Wort: den Grundstein legen für seine Zukunft. Ein geliehener Euro vervielfältigt sich und erzeugt mehrere Euro Wachstum, wachsenden Konsum, zusätzliche Steuern. Wer, wie die Deutschen, an die schwäbische Hausfrau bedingungslos geglaubt hat, ist ein Jahrzehnt für diese Chancen blind gewesen. Erst die Pandemie hat uns die Augen wieder geöffnet.

Eigentlich ist es an der Zeit, zu fragen: Wie konnte das passieren? Wie erklärt sich der Erfolg einer Binsenweisheit, die derart missbraucht wurde? Es hilft, sich vor Augen zu führen, wie alles begann: Am 1. Dezember 2008 in Stuttgart. Es ist CDU-Parteitag, die Finanzkrise hat eben ihren Höhepunkt erreicht, nachdem sie im Jahr zuvor als Subprime-Krise in den USA begonnen hatte. Der Kollaps der Investmentbank Lehman Brothers liegt erst sechs Wochen zurück, inzwischen ist aus dem regionalen Finanzcrash eine globale Wirtschaftskrise geworden, die auch Deutschland erfasst hat. Da tritt Bundeskanzlerin Angela Merkel als Hauptrednerin ans Pult und sagt den folgenschweren Satz: „Auf einmal liest man überall, warum die Finanzmärkte vor dem Kollaps standen, auch von denen, die vorher noch Anlagen empfohlen haben, die sie selbst nicht begriffen haben. Dabei ist es eigentlich ganz einfach. Man hätte hier in Stuttgart, in Baden-Württemberg, einfach nur eine schwäbische Hausfrau fragen sollen. Sie hätte uns eine ebenso kurze wie richtige Lebensweisheit gesagt, die da lautet: Man kann nicht auf Dauer über seine Verhältnisse leben. Das ist der Kern der Krise.“

Die Zeche zahlen andere

Die schwäbische Hausfrau war geboren. Überrascht es, dass diese Lebensweisheit eigentlich mit Fiskalpolitik und Staatsverschuldung gar nichts zu tun hat? Noch gibt es ja keine Eurokrise, noch steht die Welt unter dem Eindruck, man habe es hier mit dem Absturz eines entfesselten Finanzsektors zu tun, auf den auch Merkel in ihrer Rede abzielt: Die Banker, die Trader und Finanzjongleure sind es, die über ihre Verhältnisse gelebt haben und jetzt die Rechnung präsentiert kriegen. Eigentlich meint die schwäbische Hausfrau also sie. Dass die ihre Rechnung am Ende nicht begleichen werden, stattdessen die Zeche auf den Steuerzahler abwälzen, darüber hätte man sie eigentlich noch genauer befragen können.

Tatsächlich geschieht das Gegenteil: Die Lebensweisheit der schwäbischen Hausfrau wird missverstanden. Schon sechs Wochen später wird sie Merkel vorgehalten, die eben „das größte Konjunkturprogramm der Nachkriegsgeschichte samt Rekord-Neuverschuldung“ beschlossen hat. Wie war das noch mal mit der schwäbischen Hausfrau, fragt man sie im ZDF am 13. Januar 2009? Merkel sagt, man sei in einer Ausnahmesituation. Aber sie habe doch versprochen, ab 2011 nicht länger „auf Pump“ zu leben? „Politik beginnt mit dem Betrachten der Realität“, kontert die Kanzlerin. Eigentlich hätte die schwäbische Hausfrau damit Geschichte sein müssen.

Dass sie noch ein weiteres Jahrzehnt ihr Unwesen treibt, liegt an der Eurokrise. An Wolfgang Schäuble, der im Herbst 2009 Finanzminister wird. Und an der deutschen Politik gegenüber den Euromitgliedern am Mittelmeer. Ihnen wird die „Swabian housewife“ von nun an genüsslich um die Ohren gehauen: Sie hätten nun mal über ihre Verhältnisse gelebt, deshalb sei es falsch, ihnen jetzt aus der Patsche zu helfen, obwohl sie für die US-Subprime-Krise genauso wenig können wie heute für die Corona-Pandemie. Es zeigte sich: Die schwäbische Hausfrau, damit sind immer die anderen gemeint, nie man selbst. Schäuble treibt diesen kaltherzigen Egoismus, der sich als Nächstenliebe ausgibt, auf die Spitze, als er 2015 sagt: „Meine Großmutter, die von der Schwäbischen Alb stammte, pflegte zu sagen: Gutmütigkeit kommt kurz vor der Liederlichkeit. Es gibt eine Art von Großzügigkeit, die ganz schnell das Gegenteil von dem bewirken kann, was beabsichtigt ist.“

Die schwäbische Großmutter, die der Eurozone die Finanzpolitik vorgibt: Aus der Entfernung wirkt das noch grotesker, als es damals ohnehin schon war. Trotzdem funktionierte der Kniff, den Euroländern die schwäbische Einfalt aufzuzwingen: Es ging ja nicht darum, die Sinnhaftigkeit der Austeritätspolitik zu erklären, die aus der Abneigung gegen das Schuldenmachen zwangsläufig folgte. Sondern darum, die Widersinnigkeit und die bösartigen Auswüchse der Austeritätspolitik zu verbergen, sie für alternativlos und sogar moralisch geboten zu erklären.

Damit nicht genug: Die schwäbische Hausfrau durfte auch in Deutschland weiterwirken, in Form der Schwarzen Null und der Schuldenbremse. Das war wegen der günstigen Wirtschaftslage, dem damit verbundenen hohen Steueraufkommen und dem niedrigen Stand des Euro ohne große Schwierigkeiten zu erreichen. Deutschland konnte sich den Luxus zu leisten, sich dafür moralisch zu suhlen: Seht her, ihr Italiener und Griechen, wir leben eben nicht über unsere Verhältnisse! Der wahre Preis für diese Politik ist bekannt: eine verfallende Infrastruktur, kaputte Schulen, ein Investitionsstau von mehreren Hundert Milliarden.

Dem hat Corona ein Ende gemacht. Wir leben wieder über unsere Verhältnisse! Weil alles andere verheerend wäre. Wir entdecken ewige Anleihen, die erst am Sankt-Nimmerleins-Tag zurückgezahlt werden. Wir erinnern uns daran, wie wir in der Vergangenheit große Schuldenberge abgetragen haben. Indem man die Zinsen bezahlt und darauf wartet, dass über die Zeit, dank Wachstum und Inflation, der Schuldenberg schmilzt wie ein Schweizer Gletscher im Klimawandel: jedes Jahr ein Stückchen, bis man nach dreißig Jahren hinguckt, und es ist nichts mehr da.

Gewagter Sprung

Coronahilfen Angela Merkel hat einmal erzählt, wie sie als Kind im Schwimmunterricht am Dreimeterbrett stand und sich nicht traute. Erst als es fast schon zu spät war, fasste sie sich ein Herz und sprang. Ähnlich hält sie es mit dem europäischen Engagement gegen Corona: Jetzt erst hat sie mit dem französischen Präsidenten Macron Wiederaufbaufonds für besonders betroffene Sektoren und Regionen vorgestellt. 500 Milliarden Euro, finanziert aus Anleihen der EU-Kommission, für die die EU-Mitglieder gemeinsam haften, soll der Fonds vergeben, nicht als Kredite, sondern Zuschüsse. In Deutschland erntete Merkel Unterstützung, während Österreich, die Niederlande, Schweden und Dänemark auf Darlehen pochten, die zurückgezahlt werden müssen. Weil der Plan Teil des EU-Haushalts wäre, müssten alle 27 EU-Mitglieder zustimmen.

Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

Pepe Egger

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