„Erst mal den Finanzsektor vergesellschaften“

Interview Grace Blakeley weiß, warum für so viele Millennials der Sozialismus auf einmal alternativlos ist
Ausgabe 47/2019
„Warum sollten wir jungen Leute den Kapitalismus unterstützen?“ Gute Frage, Grace Blakeley
„Warum sollten wir jungen Leute den Kapitalismus unterstützen?“ Gute Frage, Grace Blakeley

Foto: Philipp Plum für der Freitag

Grace Blakeley ist Ökonomin und erst 26, aber auf bestem Wege, in Großbritannien zur Stimme einer Generation zu werden: jener Millennials nämlich, die überzeugt sind, dass in einem der kapitalistischsten Länder der Erde die Zeit reif für den demokratischen Sozialismus ist.

der Freitag: Frau Blakeley, Sie werden als führende Vertreterin des „millennial socialism“ gehandelt. Wie kommt es, dass gerade so viele junge Leute den Sozialismus für sich entdecken? Und dass junge Frauen, man denke an Alexandria Ocasio-Cortez, diese Bewegung anführen?

Grace Blakeley: Nun, warum sollten wir jungen Leute den Kapitalismus unterstützen, wenn wir davon ausgehen können, dass wir in unserem Leben nie irgendeine Form von Kapital besitzen werden?

Nicht aus materiellem Interesse, okay. Aus ideologischen Gründen vielleicht?

Na klar! Vielleicht stehen deshalb vor allem Frauen an der Spitze dieser Bewegung, weil die Logik des Kapitalismus, das „Konkurriere oder stirb“, immer weniger junge Leute im Allgemeinen und junge Frauen im Besonderen überzeugt.

Warum ist die Renaissance des Sozialismus gerade in den USA und Großbritannien so stark?

Ein Grund sind die Hauspreise. Es ist für die jungen Leute in diesen Ländern klar, dass sie nie Wohnungseigentum besitzen werden. Dazu kommt, dass die meisten jungen Menschen nicht damit rechnen, dass es für sie eine Altersversorgung geben wird. Warum sollten wir ein System stützen, das uns keine Perspektive bietet?

Der Kapitalismus hat für Ihre Generation seine Aura der Alternativlosigkeit verloren.

In der Tat. Mark Fisher meinte ja, dass es in den 1990er und nuller Jahren einfacher gewesen sei, sich das Ende der Welt vorzustellen als das Ende des Kapitalismus. Für uns gilt das nicht mehr: Wenn wir uns ein Weiterleben auf diesem Planeten vorstellen wollen, dann ist klar, dass das mit diesem Wirtschaftssystem nicht gehen wird.

Hat Labour bei den Wahlen in Großbritannien eine Chance?

Ich bin überzeugt, dass Labour die Wahlen gewinnen wird. Es geht dieses Mal um sehr viel! Uns bleiben zehn Jahre, um eine Lösung für die Klimakrise zu finden. Wenn die nächste Regierung fünf Jahre hält, dann ist die Hälfte der Zeit um, die wir noch haben, um unsere Wirtschaft zu dekarbonisieren.

Und der Brexit?

Die Tories versuchen, die Wahl zu einem Votum über den Brexit zu machen, aber die Leute haben vom Brexit einfach die Schnauze voll. Deswegen fährt Labour einen Wahlkampf, in dem es um Ungleichheit geht, Umwelt, das staatliche Gesundheitssystem, den Wohlfahrtsstaat – all die Dinge, die den Menschen nach einem Jahrzehnt der Austeritätspolitik und Lohnstagnation am Herzen liegen.

In Deutschland gibt es viele, die sich mit Corbyns Brexit-Position schwertun: Warum kann er denn nicht einfach sagen, wir bleiben in der EU, und basta?

Nun, Corbyn ist doch mittlerweile ziemlich nahe an der „Remain“-Position, wenn er sagt, Labour wird ein zweites Referendum abhalten. Aber es gibt eine Tradition der EU-Skepsis in der britischen Linken, bei Leuten wie Tony Benn: Die hatten gute Gründe, gegen einen Beitritt zum Binnenmarkt zu sein. Diese Argumente gelten immer noch, ich würde sogar sagen, heute mehr als damals: Wenn man sich anguckt, wie die Eurozone auf die Krise reagiert hat, wie sie ihren Mitgliedern Austerität aufzwingt und Staatshilfen beschränkt.

Viele Linke sagen, die EU braucht es, um mit den USA oder China mithalten zu können.

Ich denke, wenn das Ziel die Machtprojektion Europas auf globaler Ebene ist, also eine Art linkes imperialistisches Projekt, dann bedient das die Interessen des Kapitals, aber nicht die arbeitender Menschen. Im Grunde ist es ja so: All die Institutionen, die die Globalisierung in den letzten Jahrzehnten gestützt haben, sind in der Krise: die WTO, die Weltbank, der IWF, und eben auch die EU.

Zur Person

Grace Blakeley, 26, hat in Oxford Philosophy, Politics, Economics sowie African Studies studiert, bevor sie für die Labour-nahe Denkfabrik IPPR zu arbeiten begann und Mitglied der Ideenwerkstatt Labour Policy Forum wurde. Für Labour macht die aktuell Wahlkampf, ist außerdem Wirtschaftskommentatorin der Wochenzeitung New Statesman . Ihr Buch Stolen. How to save the world from financialisation (dt. „Wie wir die Welt vor der Finanzialisierung retten“) erschien im September in Großbritannien

In Ihrem Buch „Stolen. How to save the world from financialisation“ schreiben Sie, dass 2008 ein ganzes System zusammengebrochen ist, ohne dass ein neues schon entstanden wäre.

Ja, die Krise im Jahr 2008 war ja nicht nur eine Bankenkrise, sondern ein Symptom dafür, dass ein Wachstumsmodell zu Ende geht, ein Akkumulationsregime, das ich „finanz-geleitetes Wachstum“ nenne. Wenn man sich die Geschichte des Kapitalismus in den letzten 100 Jahren ansieht, gibt es immer wieder Krisen, aus denen neue Wachstumsmodelle mit ihren jeweiligen Institutionen entstehen, deren eigene Widersprüche früher oder später zu neuen Krisen führen: Das war so mit dem Laissez-faire-Kapitalismus am Anfang des 20. Jahrhunderts, der in der Großen Depression zusammenbricht, genauso mit der sozialdemokratischen „Goldenen Ära“ des Kapitalismus, die in den 1970ern mit dem System von Bretton Woods kollabiert. Aus einer Dekade der Krise ist damals das entstanden, was ich „finanz-geleitetes Wachstum“ nenne, dessen innere Widersprüche nun eben dazu geführt haben, dass es 2008 in die Krise geraten ist.

Können wir nicht einfach zum Goldenen Zeitalter des Kapitalismus zurückkehren?

Diese Art der keynesianischen Nostalgie war typisch für die Linke, bis, ja, eigentlich bis Jeremy Corbyn und Bernie Sanders auf den Plan traten. Aber ich denke nicht, dass das möglich ist. Ich bin überzeugt, dass wir die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen – Klimakrise, Ungleichheit, Armut, Verschuldung – nur bewältigen können, indem wir die produktiven Ressourcen vergesellschaften, sodass jede und jeder einen Anteil an den Wirtschaftsressourcen besitzt, und ein Mitspracherecht.

Klingt nach Sozialismus.

Allerdings!

Wie stellen Sie sich den Weg dorthin vor?

Ich habe in meinem Buch versucht, die Widersprüche der gegenwärtigen Wachstumsphase zu beschreiben und zu sehen, wie die Linke sie nutzen kann. Eine sozialistische Regierung müsste die Banken angreifen, wie Margaret Thatcher die Gewerkschaften attackiert hat. Natürlich kann der Sozialismus nicht per Dekret eingeführt werden, aber wer den Staat kontrolliert, kann den Faktor Arbeit ermächtigen, bis zu einem Punkt, an dem Sozialismus vorstellbar, wenn nicht unausweichlich wird.

Und dann?

Ein erster Schritt bestünde darin, den Finanzsektor zu vergesellschaften. Wir leben in einem finanz-geleiteten Wirtschaftssystem, also wäre der beste Weg dazu, Eigentum zu vergesellschaften, die Kontrolle über das Finanzsystem zu übernehmen: indem wir den privaten Finanzsektor stärker regulieren und einen öffentlichen Finanzsektor aufbauen, mit staatlichen Investitionsbanken, wie es sie in Deutschland gibt, und einem „People’s Asset Manager“, einem Volksvermögensverwalter, der unser Kollektivvermögen verwaltet. Im Grunde geht es um die Schwächung des Finanzkapitals auf der einen und um die Stärkung des Faktors Arbeit auf der anderen Seite, bis die Vergesellschaftung des größten Teils der Produktionsmittel vorstellbar wird.

Sie haben das Zitat getwittert: „Enviromentalism without class politics is just gardening.“

Ja, das ist von meinem Freund James Medway. Die Ökobewegung bestand in der Vergangenheit nun mal vor allem aus weißen Mittelschichtlern, die sich für mehr Recycling einsetzten. Heute gibt es eine Linke, die Umweltaktivismus mit Klassenanalyse verbindet: Wir wissen, dass die Klimakrise vor allem von den Reichen verursacht wurde, weil die am meisten CO₂ in die Atmosphäre blasen. Dass Konzerne mit fossilen Brennstoffen Milliarden verdient haben, obwohl sie seit den 1960ern wussten, was für Folgen das hat. Und dass die ärmeren Regionen der Erde am stärksten von den Folgen der Klimakrise betroffen sein werden. Aber all der Umweltaktivismus bleibt ein moralistisches Randphänomen, wenn er nicht auf einer Klassenkoalition aufbaut: einer sozialen Bewegung, die dadurch entsteht, dass die Leute davon überzeugt sind, dass Veränderung nötig ist, aber auch wissen, welche potenziellen positiven Auswirkungen die haben wird.

Dem Green New Deal?

Ja, der Green New Deal ist ein Weg, den Übergang zu einer emissionsfreien Gesellschaft mit der Schaffung von Arbeitsplätzen zu verbinden, mit öffentlichen Investitionen, Vergesellschaftungen, Investitionen in öffentliche Daseinsvorsorge und so weiter. Den Green New Deal werden die Reichen bezahlen, durch höhere Steuern, während alle, die nicht von Vermögen, sondern von ihrer Arbeit leben, davon profitieren.

Die deutsche Regierung hat gewarnt, in Sachen Klima sei nur Zaghaftes möglich, weil es sonst zu sozialen Verwerfungen kommen würde. Und dann hat sie ein Klimapaket geschnürt, das die Reichen schont und die Ärmsten am härtesten trifft.

Tja, die deutsche Regierung will die Steuern auf die Reichen nicht erhöhen und keine neuen Schulden machen. Die Schwarze Null ist eine Selbstverpflichtung, nichts grundlegend daran zu ändern, wie die Gesellschaft funktioniert.

Wegen der Schwarzen Null plant die Bundesregierung jetzt einen Klimafonds, in dem Private ihr Geld anlegen, aber der Staat die Zinsen garantiert.

Das macht doch keinen Sinn. Deutschland kann sich zu negativen Zinsen verschulden, das heißt, ihr könnt daran verdienen, dass ihr euch Geld borgt, das ist doch Wahnsinn! Im Ernst, der Privatsektor wird das nicht stemmen können. Private Anleger investieren, um über die nächsten ein oder zwei Jahre eine Rendite zu erzielen. In der Geschichte waren es nie private Anleger, die strukturelle Transformationen einer Volkswirtschaft oder Großprojekte geschultert haben, das waren immer schuldenfinanzierte staatliche Investitionen, sei es für einen Krieg oder den New Deal, für ein Konjunkturpaket oder die Mondlandung.

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