Dem deutschen Idealisten Georg Wilhelm Friedrich Hegel wird der Ausspruch zugeschrieben, „Wenn die Tatsachen nicht zur Theorie passen, dann umso schlimmer für die Tat-sachen“. Ob sich das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) am Dienstag von Hegels 250. Geburtstag inspirieren ließ? Hegelianisch tönte seine Entscheidung über Beschwerden gegen ein Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank (EZB) in jedem Fall. ,Wenn die europäische Wirtschaft, die Inflation und Konjunktur von Italien bis Frankreich, ja selbst der Euro als Gemeinschaftswährung sich nicht nach der deutschen Innenpolitik richten, dann umso schlimmer für Erstere‘, so lässt sich das Urteil übersetzen.
Ob BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sich in seiner letzten Entscheidung wohl mit einem „Bang“ verabschieden wolle, hatte die Financial Times vorab gefragt. Offensichtlich war Voßkuhle danach. Und ja: Der „Bang“ hallt weit und ist folgenreich. An der EZB-Politik wird er paradoxerweise aber vorerst wenig ändern.
In der Sache ging es um Folgendes: Das BVerfG hatte über einige Beschwerden gegen ein EZB-Anleihekaufprogramm zu richten. Die wies es teils ab, gab ihnen andrerseits aber teilweise recht. Das 2015 ins Leben gerufene Public Sector Purchase Programme (PSPP) sei zwar keine monetäre Haushaltsfinanzierung, doch Bundestag und Bundesregierung hätten es versäumt, auf eine Prüfung der Verhältnismäßigkeit des Anleihenkaufprogramms „hinzuwirken“. Die Hintertür, die die Richter der EZB offen ließen: darzulegen, dass das PSPP eben doch verhältnismäßig sei, auf Geldstabilität abziele und nicht auf die Enteignung deutscher Sparer. Dies dürfte der EZB nicht schwerfallen.
Voßkuhle goes out with a bang
Doch es bleibt eine folgenschwere Nebenwirkung und eine offensichtliche Verirrung der obersten Richter auf ein Gebiet, indem ihre juristische Kompetenz ihnen wenig nützte: Voßkuhle & Co. stellten sich nicht nur gegen den Europäischen Gerichtshof – was in Warschau und Budapest für Freude und Nachahmer sorgen dürfte –, der das PSPP gewogen und für legitim befunden hatte. Sie schalten die EZB auch dafür, dass sie das tut, was die Euro-Staaten versäumen, weil Deutschland sie daran hindert: mit aktiver Fiskalpolitik den Zusammenhalt der Euro-Zone zu stützen.
Damit folgten sie nicht nur einer ziemlich eigenwilligen, ja paradoxen Argumentation: Die EZB solle unabhängig sein, sie dürfe sich nicht in Politik und Wirtschaftspolitik einmischen. Wie genau sie ihre Unabhängigkeit aber auslegt, das müsse ihr das deutsche Grundgesetz und die Fürsprecher der deutschen Sparer diktieren.
Das BVerfG wollte auch nicht sehen, dass die ganze aktivistische Geldpolitik der EZB darauf zurückgeht, dass die Euro-Staaten mit der Finanzkrise allein nicht fertig wurden, genau wie sie derzeit dabei versagen, die ökonomischen Folgen der Pandemie zu bekämpfen: Weil sie so tun, als könne man eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Fiskalpolitik haben. Idealismus – und deutsche Innenpolitik – sind eine feine Sache. Tatsachen einfach wegzaubern aber, das können sie nicht.
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