Auf dem Tahrir-Platz stehen die Autos mehrspurig um einen Kreisverkehr herum im Stau, hupend, bis spät in die Nacht. Acht Jahre nach der Revolution ist der Tahrir kaum mehr als ein Verkehrsproblem. Und das ist auch gut so, wenn es nach der deutschen Wirtschaft geht.
Dreihundert Meter vom Platz entfernt, im noblen Hotel Semiramis, steht Peter Altmaier, Bundesminister für Wirtschaft und Energie, in einem dunkel getäfelten Konferenzraum vor den Teilnehmern einer deutschen Wirtschaftsdelegation, die mit ihm Ägypten bereist. Altmaier sieht die Dinge so: In Ägypten ist nach vielen „Problemen“ – ja, auch den „Problemen“ auf dem Tahrir-Platz – eine „Verschnaufpause“ eingekehrt. Das Land ist jetzt wieder einigermaßen „stabil“.
Diese Stabilität ist gut für Deutschland, geostrategisch. Das bilaterale Handelsvolumen betrug 2018 knapp sechs Milliarden Euro. Ägypten zählt zu den größten Importeuren deutscher Wehrtechnik außerhalb der EU. Nach Angaben des Wirtschaftsministeriums haben über 300 deutsche Unternehmen hier Niederlassungen mit rund 20.000 Arbeitsplätzen. Stabilität ist die Voraussetzung dafür, dass deutsche Unternehmen in Ägypten Geld verdienen können. Das sollen sie tun, sagt Altmaier, denn es führt zu mehr Bildung und Wohlstand. Und damit zu noch mehr Stabilität.
Der Haken dabei ist allein: Die Stabilität ist mit Gewalt erkauft. Es ist eine bleierne Stabilität, die all die Hoffnungen auf Demokratie und Freiheit aus der Revolution unter sich begräbt. Denn Ägypten ist wieder „stabil“, seit Abd al-Fattah as-Sisi, der ehemalige Chef des Militärgeheimdienstes, 2013 den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Ägyptens in einem Staatsstreich absetzte und sich 2014 zum Präsidenten wählen ließ. Seit Kritiker der Regierung inhaftiert und abgeurteilt werden, die Opposition kriminalisiert und unabhängige Medien geschlossen werden.
Bei den Pharaonen
Menschenrechtsorganisationen sprechen von Zehntausenden politischen Gefangenen in ägyptischen Gefängnissen, Altmaier spricht davon, dass erst mal möglichst viele jungen Menschen in Ägypten in Lohn und Brot kommen sollen. Was so viel heißt wie: Für anderes sind andere zuständig. Oder aber: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte sind hier und jetzt nun mal keine deutschen Exportgüter. Oder vielleicht heißt es, und das trifft Altmaiers Ansatz wohl am besten: So einfach ist das alles nicht. Wer sich hierhinstellt und öffentlich Kritik übt, kassiert vielleicht Lorbeeren von zu Hause, aber in der Sache hilft es wenig. Und es könnte die Möglichkeiten für deutsche Firmen gefährden, „Wohlstand und Bildung“ zu exportieren.
Altmaiers Programm in Kairo ist eng getaktet. Für die Grundsteinlegung der German International University of Applied Sciences, einer Fachhochschule, sind nur 25 Minuten vorgesehen. Es ist schon dunkel, in der Wüste östlich von Kairo. Hier soll einmal Ägyptens neue Verwaltungshauptstadt stehen, bislang gibt es nur ein großes Zelt im schwarzen Nichts. Der Minister, über die menschenleere Autobahn angereist, wird sofort von einem Pulk Kameramänner eingekreist. Aus dem Zelt dröhnt Musik, über ihm schwirrt eine lärmende Kameradrohne, die Lichter der Kameras blenden, man hört kein Wort von dem, was Altmaier sagt. Aber es scheint ihm nichts auszumachen.
In dem Zelt klopfen sich die Honoratioren und Exzellenzen in ihren Reden gegenseitig floskelhaft dafür auf die Schulter, dass man das Projekt angestoßen habe. Nicht so Altmaier: Es sei ein „wundervoller und historischer Moment“, sagt er in seiner Ansprache, man sei mitten in der Wüste, er habe an das Tal der Könige denken müssen, an die Größe der Pharaonen, die kunstvollen Gegenstände, die an sie erinnern. Jetzt werde hier eine Fachhochschule eröffnet, „da bin ich berührt und bewegt, weil hier junge Leute lernen werden“ und Kenntnisse und Kunstfertigkeiten erwerben, jene Jugend, von der es abhängen wird, eine bessere Welt zu schaffen, „I congratulate you from se bottom of my heart!“, er gratuliert aus tiefstem Herzen.
Diesen „bottom of my heart“ gibt es später noch einmal, als Altmaier eine koptische Kathedrale besucht, einen gigantischen Neubau, der schon in der neuen Verwaltungshauptstadt steht, eben erst eingeweiht von Präsident as-Sisi höchstselbst. Ein koptischer Bischof in schwarzer Ledermütze und großem Kreuz auf der Brust führt Altmaier durch die riesige Betonkathedrale. Fast so groß und so hoch wie der Petersdom sei sie, sagt der Kopte, 8.500 Gläubige hätten hier unter den hellbunten Fresken Platz.
Die Kopten scheinen ebenso angetan von Altmaier wie die vereinzelten jungen Menschen, die ihn bei der Grundsteinlegung zur Universität erlebt haben. Und das, obwohl sein Beitrag hauptsächlich darin besteht, glaubhaft zu vermitteln, wie bewegt und berührt er sei, hier zu sein. Doch halt: In der koptischen Kathedrale hält er doch noch fest, dass er gekommen sei, um ein Zeichen der Solidarität mit den koptischen Christen zu setzen, das sei ihm wichtig. Und er hoffe, dass die Kirche ein Ort werde, „an dem die Menschen an Frieden denken, an Zusammenarbeit und an die Liebe“.
Man kann Deutschland auch schlechter repräsentieren. Und trotzdem: Was könnte man nicht alles erreichen, wenn man sich mit demselben Engagement, mit dem man hier der deutschen Wirtschaft den Weg bahnt, auch für das Erbe der arabischen Revolution einsetzte? Gegen die Pläne von as-Sisi, die Verfassung zu ändern, sodass er bis 2034 im Amt bleiben kann? Für die Zehntausenden politischen Gefangenen? Die eingesperrten Journalisten? Laut Reporter ohne Grenzen sind mindestens 32 Journalisten in ägyptischen Gefängnissen, nur deshalb, weil sie ihre Arbeit getan haben. Wie zum Beispiel Mohammed al Husseini, festgenommen im Dezember 2017, als er „für eine Reportage über gestiegene Preise für Schreibwaren“ recherchierte.
Altmaier weiß das alles, er hat sich vor seiner Abreise von zwei Menschenrechts-organisationen briefen lassen, und er trifft sich vor seiner Abreise aus Kairo mit Vertretern der Zivilgesellschaft. Öffentlich darüber sprechen möchte er jedoch lieber nicht.
Siemens überholt Napoleon
Stattdessen besucht er ein von Siemens gebautes Gaskraftwerk. Es ist eine gigantische Auftürmung von rot-weiß gestreiften Schloten und riesigen metallenen Rohren, mitten in der Wüste, 70 Kilometer östlich von Kairo, Siemens hat es im Auftrag des Präsidenten in weniger als drei Jahren hochgezogen. In einer lang gestreckten Mannschaftsbaracke, die sich neben dem riesigem Kraftwerk in den Wüstensand duckt, drängen sich gewiss 100 Menschen: Der ägyptische Minister für Elektrizität ist hier, jede Menge Ingenieure und Energiemanager, ein Siemens-Vorstand, dazwischen die Mitglieder der Wirtschaftsdelegation und rundherum Arbeiter in gelben Westen und Hartschalenhelmen.
Altmaier findet, es sei jetzt ein „historischer Augenblick“, hier und heute, wegen des technologischen Superlativs, den das Kraftwerk darstellt: nicht nur das größte seiner Art weltweit, sondern mit nur halb so viel CO₂-Emissionen wie ein Kohlekraftwerk, „ein Quantensprung“. Dann zweigt er ab in einen Exkurs ins historisch Abseitige: Er gratuliert dem ägyptischen Minister, dass er den Auftrag an Siemens vergeben hat, „ein wundervolles Unternehmen“, auf das er stolz sei. Werner von Siemens habe ja schon im 19. Jahrhundert den Telegrafen entwickelt, zum ersten World Wide Web gemacht und damit die Verbreitung von Wissen beschleunigt, was für ein Fortschritt, wenn man bedenke, dass Napoleon nur ein paar Jahre vorher, nach seiner Niederlage in Russland, noch vor der Nachricht davon wieder zu Hause angekommen sei.
Altmaier selbst hingegen verfolgen auch in Ägypten die Nachrichten von zu Hause: die Kritik an seiner Industriestrategie 2030, die Kohlekommission, das drohende Haushaltsloch. Vor seinem Heimflug besucht er noch die Pyramiden von Gizeh, er scheint fasziniert von der Zeit der Pharaonen. Schon auf dem Hinflug hatte er davon erzählt, wie er als 11-Jähriger von seinem Onkel ein Buch über die Entdeckung des Grabs von Tutanchamun durch Howard Carter bekommen hatte. Altmaier sagt „Tut – Anch – Amun“. Wie jemand vom Fach. In Gizeh fachsimpelt er als Erstes geschlagene 20 Minuten lang mitten im Menschengewusel am Fuß der Cheopspyramide mit einem ägyptischen Archäologen. Dann sagt er auf einer Anhöhe, die drei Pyramiden im Rücken: Stabilität und Menschenrechte seien beides „gleichberechtigte Ziele“. Und spricht schließlich einen O-Ton in die deutschen Fernsehkameras – zur Grundrente.
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