Klimaökonomin Claudia Kemfert: „Uns wurden Lügen aufgetischt“
Gas Deutschlands bekanntestes Energie- und Klimaökonomin ärgert sich über die Gasheizungs-Debatte, eine katastrophale Energiepolitik und darüber, dass die Verantwortlichen für die Versorgungskrise einfach so davon kommen
Claudia Kemfert im Interview: „Aus Rache für mein Buch erfahre ich gerade so viel Gegenwind wie noch nie“
Foto: Oliver Betke
Energieökonomie, das ist normalerweise was für Eingeweihte und Spezialisten, es geht da um Sachen wie die Bilanzkreisabrechnung Strom oder die Merit Order des deutschen Kraftwerkparks. Seit dem Ukraine-Krieg aber geht es in der Energiewirtschaft und Energiepolitik auf einmal darum, wie lange wir noch Gas zum Heizen haben und warum die Strompreise so hoch sind. Und welche Fehler der Vergangenheit genau dafür verantwortlich sind. Claudia Kemfert hat darüber im Februar ein Buch veröffentlicht, es heißt Schockwellen.
der Freitag: Frau Kemfert, Sie versuchen, die Irrtümer und Irrwege der deutschen Energiepolitik der letzten Jahrzehnte aufzuarbeiten, also all die Entwicklungen, die zur Gaskrise geführt haben, in der wir immer noch stecken. Es scheint sich j
das ist normalerweise was für Eingeweihte und Spezialisten, es geht da um Sachen wie die Bilanzkreisabrechnung Strom oder die Merit Order des deutschen Kraftwerkparks. Seit dem Ukraine-Krieg aber geht es in der Energiewirtschaft und Energiepolitik auf einmal darum, wie lange wir noch Gas zum Heizen haben und warum die Strompreise so hoch sind. Und welche Fehler der Vergangenheit genau dafür verantwortlich sind. Claudia Kemfert hat darüber im Februar ein Buch veröffentlicht, es heißt Schockwellen.der Freitag: Frau Kemfert, Sie versuchen, die Irrtümer und Irrwege der deutschen Energiepolitik der letzten Jahrzehnte aufzuarbeiten, also all die Entwicklungen, die zur Gaskrise gefXX-replace-me-XXX252;hrt haben, in der wir immer noch stecken. Es scheint sich ja gerade eine „Hinterher sind alle schlauer“-Erzählung durchzusetzen, also etwas wie: „Hätten wir bloß gewusst, dass Russland die Ukraine überfällt und uns das Gas abdreht, dann hätten wir Nord Stream nicht gebaut. Aber das konnte sich ja keiner vorstellen, dass das so ausgeht ...“Claudia Kemfert: Und genau das ist falsch. Wir hätten es nicht nur wissen können, wir hätten es wissen müssen, dass Russland seine Energielieferungen als politisches Druckmittel einsetzt. Weil Russland genau das in allen möglichen Kontexten tatsächlich immer wieder gemacht hat. Wir hätten wissen müssen, dass uns die Abhängigkeit von einem Lieferanten und die Abhängigkeit von fossilen Energiequellen erpressbar macht. Ich persönlich, aber auch viele andere Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler haben in Studien und durch öffentliche Stellungnahmen immer wieder gewarnt, dass wir die Nord-Stream-Pipelines bauen – aufgrund von künstlich hoch gerechneten Gasbedarfen, für die es keine Grundlage gab. Das Problem lag offen zutage. Wir sind sehenden Auges hineingelaufen.Wie war das möglich?Uns wurden Lügen aufgetischt, ganz einfach. Die Realität wurde verweigert, Erkenntnisse unter den Tisch gekehrt. Ich habe mein Buch geschrieben, um die Verantwortlichen für diese Entwicklung zu benennen: Also diejenigen, die sich für fossile Abhängigkeiten eingesetzt haben, weil sie daran verdient haben, und diejenigen, die zugleich die Energiewende ausgebremst haben, obwohl sie uns von fossilen Energiequellen unabhängig gemacht hätte. Es sind mehrere, aufeinander folgende Regierungen, die dafür verantwortlich sind. Es ist die Industrie, also bestimmte Unternehmen, die uns sehenden Auges in diese Misere geführt haben. All diese Verantwortlichen haben sich bis heute nicht entschuldigt. Die Bevölkerung zahlt jetzt einen gigantisch hohen Preis dafür.Sie meinen, die fehlgeleitete Energiepolitik wurde noch nicht wirklich aufgearbeitet?Überhaupt nicht. Eine ehrliche Aufarbeitung findet nicht statt. Im Gegenteil: Es werden die identischen Fehler mit der identischen Argumentation wiederholt. Dass derzeit Gas und Strom so teuer sind, liegt ja genau an unserer fossilen Abhängigkeit. Das Beste wäre also, heute wie in der Vergangenheit, uns davon zu lösen: durch den Ausbau der Erneuerbaren, durch eine vernünftige Klimapolitik. Die aber wird ausgebremst, weil sie angeblich zu teuer sei. Welch absurdes Argument! Damit zementieren wir aufs Neue genau die Ursache, warum die Energiekosten so hoch sind. Kennen Sie Bill Murray in dem Film Und täglich grüßt das Murmeltier? Der wacht jeden Morgen auf, und alles wiederholt sich. Genau so fühle ich mich manchmal: Ich denke, das darf doch nicht wahr sein! Dieselben Fehler noch einmal?! Die Debatten sind dieselben, viele Akteure sind dieselben, als hätten wir nicht gerade sehr eindrücklich vor Augen geführt bekommen, wohin uns diese Politik geführt hat.Die Nord-Stream-Pipeline ist ja ein gutes Beispiel, wie einige wenige Unternehmen sehr viel Geld damit verdienen und wie die Politik, vor allem die SPD, aber auch Angela Merkel, sie darin unterstützt. Jetzt wurde uns das Gas abgestellt, und obendrein ist auch die Pipeline kaputt. Sie waren vor dem Bau der Pipeline dagegen, aber man hat nicht auf Sie gehört. Hört man jetzt auf Sie?Nein.Echt nicht?Im Gegenteil. Ich erfahre derzeit so viel Gegenwind wie nie zuvor. Nicht unmittelbar von den Menschen, die mein Buch lesen. Die sind dankbar für die Aufklärung. Aber vermutlich weil ich in dem Buch so klar die Verantwortlichen benenne, gibt es eine neue Qualität des Shitstorms gegen mich. Das ist offensichtlich orchestriert und geht über das hinaus, was ich aus der Vergangenheit kenne. Ich betrachte das als Rache für mein Buch.In Ihrem Buch kritisieren Sie Olaf Scholz dafür, dass er sich wenige Wochen nach dem Beginn des Ukraine-Krieges gegen einen Gasboykott gegen Russland entschieden hat. Scholz sagte damals, ganze Industriezweige müssten in so einem Fall in Deutschland den Betrieb einstellen, obwohl es mehrere Studien gab, die voraussagten, dass so ein Schritt zwar schmerzhaft und teuer, aber durchaus verkraftbar gewesen wäre. Als man ihm entgegenhielt, dass es Wirtschaftswissenschaftler gebe, die das anders sähen, antwortete er, es sei „unverantwortlich, irgendwelche mathematischen Modelle zusammenzurechnen, die dann nicht wirklich funktionieren“. Was hat Sie daran so geärgert?Ich fand das schockierend. Nicht, weil er als Bundeskanzler verschiedene Interessen abwägen muss, bevor er Entscheidungen trifft. Sondern weil ich seine Aussage als wissenschaftsfeindlich empfand. Er könnte die Studien kritisieren; er könnte sagen: Ich nehme das zur Kenntnis, aber entscheide mich anders. Aber stattdessen hat er sämtliche wissenschaftlichen Arbeiten mal eben vor Millionenpublikum am Sonntagabend in die Tonne getreten. Nicht nur war de facto falsch, was er behauptet hat: Wir sehen ja heute, dass wir durchaus ohne russisches Gas auskommen. Sondern Scholz hat indirekt auch erklärt, was seine Entscheidungen eigentlich treibt, nämlich die Interessen der Industrie. Natürlich sitzt die Industrie dem Bundeskanzler im Nacken, aber sollte sein Fokus nicht auf dem Gemeinwohl liegen?! Das kritisiere ich nach wie vor. Aktuell passiert ja wieder genau das Gleiche: Wir bauen überdimensionierte und überflüssige LNG-Terminals, nur weil uns die Gasindustrie weiter vorgaukelt, dass wir ohne all das Gas verloren wären. So wird die alte Politik fortgesetzt – und jetzt sogar mit dem noch umweltschädlicheren Frackinggas.Sie schreiben, dass drei Dinge zusammengehören: Energiesicherheit, soziale Gerechtigkeit und Klimaschutz. Die drei seien keine Gegensätze, sondern eine Einheit, bei der keines ohne die anderen verwirklicht werden kann. Nur ist es leider so, dass wir heute oft das eine gegen das andere ausspielen. Wenn etwas günstig ist, dann ist es nicht grün. Wenn wir stattdessen auf grüne Energien setzen, wird es teuer und unsozial. Wie kommen wir aus der Nummer raus?Letztendlich geht es um den Ausbau der erneuerbaren Energien, aber nur, indem wir sie auch als Gemeinschaftsprojekt und als Bürgerenergie verstehen. Partizipative Energie, das heißt Solarenergie auf jedes Gebäude, aber auch an Windenergieanlagen kann sich jeder beteiligen. Es muss bessere Ökostromprojekte gerade für Mieter:innen geben. Davon profitieren Bürger:innen unmittelbar, nämlich durch billigere Tarife, durch finanzielle Beteiligungen und durch saubere Luft. Entgegen allen Kampagnen der Klimaschmutzlobby sind erneuerbare Energien nämlich heute schon billiger als fossile Energien. Wenn man endlich die niedrigen Kosten weiterreicht oder die Energie sogar selber herstellt, steigen nicht mehr die Gewinne der Konzerne, nein, es sinken die Preise für die Verbraucher:innen. Bürgerenergie schafft soziale Gerechtigkeit durch preiswerte Energie, Versorgungssicherheit und emissionsfrei ist es auch noch.In der Vergangenheit war Klimapolitik oft folgenlos. Man hat ambitionierte Ziele beschlossen, die in der Zukunft lagen, in der Realität änderte sich wenig. Jetzt scheint ein Punkt erreicht, wo Klimapolitik konkrete Auswirkungen auf das Leben sehr vieler Menschen hat, Stichpunkt Heizungsgesetz. Nehmen deswegen die Konflikte darüber zu? Weil es jetzt ans Eingemachte geht?Auch. Leider spielt die Politik „Schwarzer Peter“. Seit Jahren werden Sorgen und Konflikte von interessierter Seite bewusst durch Fake-Kampagnen geschürt. Aus Angst vor Protesten und „Gelbwesten“ oder auch aus Sympathie für die fossile Industrie verschleppt die Politik seit vielen Jahren die Entscheidungen. Man zögert und zaudert, bis es irgendwann nicht mehr anders geht. Da stehen wir jetzt. Einfach weitermachen wie bisher ist keine Option! Der Schwarze Peter liegt bei der aktuellen Regierung. Aber anstatt dass sie den Menschen die Fakten erklärt und sich geschlossen und zügig an die Arbeit macht, wird so getan, als läge der Schwarze Peter allein beim Wirtschaftsministerium – und das so verdammt ernste Thema wird zum politischen Ränkespiel. Diese Verantwortungslosigkeit ist schockierend! Denn Fakt ist: Heizen mit Gas ist teuer und wird sehr viel teurer werden, weil die Emissionspreise steigen. Der CO₂-Preis im Heizbereich liegt heute schon bei 35 Euro pro Tonne CO₂ und wird bis 2025 auf 55 Euro pro Tonne ansteigen. Das steht heute schon fest. Der CO₂-Preis in der EU liegt schon bei knapp 100 Euro pro Tonne CO₂. Deswegen gilt: Wer energetisch saniert, spart Geld. Auch wer auf Wärmepumpe umstellt, spart Geld. Nicht sofort heute, aber in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Aufwand und Nutzen werden individuell verschieden sein. Aber am Ende ist es billiger – für alle! Nur wenn wir weitermachen wie bisher, wird das Ganze richtig teuer.Placeholder infobox-1