Lesbos hat uns auch vorher nicht interessiert

EU Wir konzentrieren uns ganz auf die Pandemie. Wie es Flüchtlingskindern an der Grenze geht, ging schon vor Corona unter
Ausgabe 12/2020
Tödliche Grenze: Geflüchtete im Lager Moira auf Lesbos suchen Schutz vor einem ausgebrochenen Feuer
Tödliche Grenze: Geflüchtete im Lager Moira auf Lesbos suchen Schutz vor einem ausgebrochenen Feuer

Foto: Mangolis Lagoutaris/AFP/Getty Images

Jetzt hat es auch noch gebrannt. In einem Lager, in das mehr als 19.000 Menschen gepfercht sind, obwohl darin eigentlich nur für 3.000 Platz ist: in Moria, auf Lesbos. Ein sechsjähriges Mädchen sei von dem Feuer getötet worden, bestätigte die griechische Polizei. Der Grünen-Europaabgeordnete Erik Marquardt, der Anfang dieser Woche vor Ort war, berichtete gar von zwei getöteten Kindern und schrieb im Internet: „Es gibt Bilder, die ich hier nicht zeige.“

Woran Marquardt nicht gedacht haben mag: Wir wollen die Bilder sowieso nicht sehen. Entweder, weil wir sie nicht mehr aushalten. Weil wir sie nicht mehr ansehen können. Oder weil uns die Bilder stören, schlechte Laune machen – und bitte: Im Moment haben wir ja wirklich auch gerade andere Sorgen, oder?

Dabei gäbe es in Moria, auf Lesbos, einiges zu sehen: Kinder, die den Winter in Zelten verbringen, ohne Gesundheitsversorgung. Kinder, die auf einmal in einen Zustand der bewegungslosen Antriebslosigkeit verfallen. Kinder, die versuchen, sich das Leben zu nehmen.

Auch an der griechisch-türkischen Grenze herrscht immer noch Ausnahmezustand, obwohl wir leider keine Aufmerksamkeit mehr und keine Sendezeit dafür aufbringen können, weil wir uns jetzt ganz auf die Corona-Pandemie konzentrieren müssen.

Das Zynische ist: Die Bilder haben uns auch vor Corona nicht wirklich interessiert. Im Gegenteil: Unsere ganze Politik in Bezug auf die Lage der Geflüchteten in der Türkei und auf den griechischen Inseln, unser ganzer Einsatz zielte vor allem darauf, die Bilder davon zu verdrängen. Wir haben den türkischen Präsidenten Erdoğan seit 2016 dafür bezahlt; nicht dafür, dass er an der ausweglosen Lage der Flüchtlinge was ändert oder gar an den Ursachen für die Flucht. Nein, dafür, dass er sie von uns fernhält.

Das Lager Moria auf Lesbos ist ja kein wildes Zelten von afghanischen und syrischen Flüchtlingen. Nein, es ist ein EU-Hotspot, Kernelement des EU-Türkei-Deals. Die Zustände dort sind also kein Unfall, sie sollen so sein, wie sie sind. Recep Tayyip Erdoğan hat demgemäß nur folgerichtig gehandelt, als er Anfang März den tausendfachen Versuch von Flüchtlingen, aus der Türkei nach Griechenland zu gelangen, ermöglicht und vorangetrieben hat: Ganz kurz waren auf einmal wieder diese Bilder in den Köpfen, war wieder „2015“. Ganz kurz hatte er unsere Aufmerksamkeit wieder.

Die ist jetzt woanders. Die Flüchtlinge aber sind immer doch da: aufgehalten von der griechischen Regierung mit Tränengas und Gummigeschossen und der vorläufigen Aussetzung des Rechts auf Asyl. Das ist ja das Problem mit der Politik des Aufschiebens und Verdrängens: Die Übel der Welt verschwinden nicht, wenn wir unsere Augen vor ihnen verschließen. Auch nicht, wenn wir gerade Corona-Panik haben. Oder, weniger zynisch: wenn wir selbst vor einer riesigen Herausforderung stehen, wie sie eine Pandemie darstellt.

Tatsächlich gäbe es in Deutschland Kräfte und Kapazitäten, um etwas zu tun. Um die Augen offenzuhalten und zu handeln. Doch die schwarz-rote Bundesregierung blockiert 140 aufnahmebereite Kommunen und Städte, weil Flüchtlingspolitik allein eine Angelegenheit des Bundes sei. Der Bund wiederum bleibt untätig, weil es noch keine europäische Lösung gibt.

Dass 1.500 Kinder aus den menschenunwürdigsten Umständen in griechischen Lagern unter anderem nach Deutschland geholt werden sollen: Das ist eine gute Nachricht. Und nachgerade pervers, wenn der Schritt nur dazu dient, sonst weiterzumachen wie bisher.

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Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind in verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

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