Alexander Lurz zu Zeitenwende und Aufrüstung: „Es herrscht gerade Goldgräberstimmung“
Im Gespräch Die sogenannte Zeitenwende bedeutet inzwischen vor allem eines: Aufrüstung. Der Greenpeace-Experte Alexander Lurz warnt vor hektischer, fataler Geldverschwendung
Greenpeace-Experte Alexander Lurz plädiert für eine Reform des dysfunktionalen Beschaffungswesen, statt hektischer Aufrüstung
Foto: Sean Gallup/Getty Images
Ein Jahr ist seit dem russischen Angriff auf die Ukraine vergangen. Bundeskanzler Olaf Scholz hat damals die Zeitenwende ausgerufen: Was bedeutet das seitdem für die deutsche Rüstungsindustrie und für die Bundeswehr? Ein Gespräch mit dem Experten für Abrüstung Alexander Lurz von Greenpeace Deutschland..
der Freitag: Herr Lurz, Sie sind Experte für Abrüstung. Doch seit der sogenannten Zeitenwende, die Bundeskanzler Olaf Scholz als Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine ausgerufen hat, hat ein neues Zeitalter der Aufrüstung begonnen.
Ich betrachte das auf mehreren Ebenen mit Sorge. Wir wissen: Aufrüstung führt in der Regel zu noch mehr Aufrüstung und erhöht damit die Gefahr von Eskalation und Gewalt. Und sie ve
Eskalation und Gewalt. Und sie verschlingt enorme finanzielle Mittel. Dieses Geld kommt nicht aus dem Nichts, was bedeutet: Es muss an anderer Stelle eingespart werden. Schon heute haben wir in Deutschland, aber auch darüber hinaus erhebliche soziale Ungleichheiten und Verwerfungen. Um dem zu begegnen, ist angeblich kein Geld da. Ähnlich ist es mit dem Klimaschutz. Wenn man, wie diese Bundesregierung, zugleich die Schuldenbremse einhalten möchte, muss Aufrüstung also dazu führen, dass am Kampf gegen soziale Ungerechtigkeit, am Klimaschutz und anderen wichtigen Dingen gespart wird.Um die Schuldenbremse zu umgehen, haben Olaf Scholz und Christian Lindner sich den Kniff mit den 100 Milliarden Euro Sondervermögen am Haushalt vorbei für die Bundeswehr ausgedacht.Die Bundesregierung steht derzeit unter enormem Druck, diese 100 Milliarden Euro nun auch schnell auszugeben. Dieser Druck wird von der Rüstungsindustrie, aber auch von den Medien erzeugt: Es soll jetzt alles sehr schnell gehen. Aber es ist nicht erkennbar, welche Analyse die Bundeswehr nach Ausbruch des Ukrainekriegs getroffen hat, welches Konzept sie für diese 100 Milliarden verfolgt. Nun läuft es wohl darauf hinaus, dass man das kauft, was man schon vor dem Krieg gern wollte. Und nicht, was man eigentlich bräuchte.Das deutsche Beschaffungswesen ist höchstgradig dysfunktionalAls Laie stellt man sich vor, dass jetzt mit den 100 Milliarden sinnvolle und durchdachte Wunschlisten abgearbeitet werden.Dem steht die mangelnde Reform des Beschaffungswesens der Bundeswehr entgegen. Dieses wurde zwar beschleunigt, aber nicht verbessert. Und wir wissen, dass das deutsche Beschaffungswesen höchstgradig dysfunktional war und ist. Zu welchen Konsequenzen das führt, hat Greenpeace von Professor Michael Broska vom IFSH Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik der Universität Hamburg ausrechnen lassen. Er schätzt, dass von den 100 Milliarden des Sondervermögens ohne eine Reform des Beschaffungswesen bis zu einem Drittel verloren gehen könnten. Das wären 33 Milliarden Euro an Steuergeldern.Weil die Bürokratie derart dysfunktional ist?Das Problem ist nicht nur die Bürokratie. Es gibt bei jeder Beschaffungsentscheidung verschiedenste Interessen, die Einfluss haben. Deshalb dreht sich der Prozess nicht mehr ausschließlich darum, das Beste und Günstigste am schnellsten zu beschaffen. Es spielen beispielsweise auch Arbeitsplatzargumente eine Rolle, gerade bei der Werftindustrie. Wahlkreisabgeordnete kämpfen dafür, dass die neue Korvette oder Fregatte in ihrem Wahlkreis gebaut wird. Oder Landesregierungen versuchen Druck zu machen für Standorte, bei denen man weiß: Rein militärtechnisch und finanziell ist das nicht die beste Lösung. Ein anderes Beispiel sind Entscheidungen der Bundesregierung, bei denen mit Rüstungskooperationen das Ziel verfolgt wird, die europäische Zusammenarbeit zu stärken. Diese verschiedenen Interessen lassen sich mit dem eigentlichen verteidigungspolitischen Interesse – das zu beschaffen, was die Bundeswehr aus militärischer Sicht wirklich braucht – selten bis nie auf eine Linie bringen.Der Begriff Zeitenwende meint: Wir leben seit dem 24. Februar 2022 in einer anderen Welt und brauchen deswegen 100 Milliarden für Rüstung. Würden Sie dem überhaupt zustimmen?Es ist ja nicht so, als hätte die Bundeswehr vor dem Beginn des Ukrainekriegs kaum Geld gehabt. Der Verteidigungshaushalt ist von 2014 bis 2021 schon deutlich angewachsen, von 32 auf knapp 50 Milliarden. Das war bereits der siebtgrößte Verteidigungshaushalt der Welt. Damit sollte es wohl gelingen, eine Bundeswehr auszustatten, die die Landesverteidigung hinbekommt. Warum ist das nicht der Fall? Ein Grund ist eben wie geschildert das dysfunktionale Beschaffungswesen. Ein weiterer Grund ist die strategische Ausrichtung der Bundeswehr in den letzten 20, 30 Jahren. Man hat sich auf Auslandseinsätze wie in Afghanistan konzentriert oder den Kampf gegen Piraten am Horn von Afrika priorisiert. Dadurch sind andere Dinge vernachlässigt worden.Die Bundeswehr wurde nicht kaputtgespart. Aber jetzt rächt sich die falsche strategische AusrichtungAber stimmt denn die Prämisse, dass die Bundeswehr blank da steht? Damit rechtfertigt man nicht nur die 100 Milliarden Sondervermögen, sondern auch weitere Steigerungen des Wehretats, bis zum 2-Prozent-Ziel.Die Behauptung, dass die Bundeswehr kaputtgespart wurde, kann man klar verneinen. Deutschland hatte immer einen hohen und seit einigen Jahren sogar einen sehr hohen Wehretat. Zum einen wurde das Geld aber nicht sinnvoll ausgegeben, und das wird sich auch fortsetzen, solange das Beschaffungswesen nicht reformiert wird. Zum anderen rächt sich jetzt die strategische Ausrichtung der Bundeswehr auf eine Interventionsarmee. Das sieht man beispielsweise an der neuen Fregattenklasse 125: Das sind Schiffe, die für Auslandseinsätze optimiert sind. Sie können zwei Jahre lang im Einsatz sein, ohne eine Werft ansteuern zu müssen. Dafür haben sie aber andere Nachteile, etwa eine schwache Bewaffnung. Solche Schiffe sind nützlich, wenn vor Somalia Piraten verfolgt werden sollen, aber nicht für Einsätze in der Ostsee gegen schwer bewaffnete Gegner wie Russland. Diese vier Fregatten haben zusammen 3,7 Milliarden Euro gekostet – wie kann man da von Unterfinanzierung reden? Die Frage ist eher: Hat man das Geld sinnvoll ausgegeben, wenn die Fregatten für den heutigen Zweck nicht wirklich einsetzbar sind? Und die größere, dahinterliegende Frage ist: Wie soll ein System, dass 20, 30 Jahre die falsche Strategie verfolgt und die falschen Beschaffungsentscheidungen getroffen hat, nun plötzlich richtig funktionieren?Es scheint keine gute Idee, in dieses dysfunktionale System noch mal 100 Milliarden zu pumpen.Es ist ein extrem komplexes System, bei dem man an mehreren Stellschrauben drehen müsste. Zuerst müsste aber die Politik einen Konsens finden, wie sie verhindert, dass diese ganzen weiteren Interessen so großen Einfluss auf die Beschaffung haben. Dazu bräuchte es eine Kommission, die eine echte, tiefgreifende Reform erarbeitet. Natürlich wird dagegen sofort gesagt: Dafür haben wir keine Zeit, wir müssen jetzt schnell auf die russische Bedrohung reagieren. Dabei ist eigentlich klar: Der ukrainische Widerstand gegen die russische Invasion, also die enormen Verluste, die der russischen Armee durch die Ukraine zugefügt werden, führt dazu, dass Russland auf Jahre keine echte Bedrohung für Deutschland werden, oder auch nur ernsthaft erwägen könnte, ein NATO-Mitglied anzugreifen. Die Zeit für eine echte Reform gäbe es also durchaus.Mich erinnert die Stimmung an die Zeit nach 9/11, als man auf eine neue Bedrohung völlig überzogen reagiert hatIch lese Berichte, wonach das Sondervermögen für die Bundeswehr schon schrumpft, bevor es ausgegeben wird, weil die Zinsen gestiegen sind: Bis zu 13 Milliarden Euro könnten für Zinszahlungen draufgehen.Das ist das eine. Zusätzlich nagt an dem Sondervermögen natürlich auch die Inflation. Die 100 Milliarden haben schon im vergangene Jahr rund acht Prozent an Kaufkraft eingebüßt, dieses Jahr werden es wahrscheinlich noch einmal acht Prozent sein. Sicher aber kann man aber davon ausgehen, dass hektisches Einkaufen zu nicht marktgerechten Preisen und womöglich höheren Verlusten führt. Es rächt sich eben der Schnellschuss, drei Tage nach Kriegsausbruch einfach eine runde Summe auf den Tisch gelegt zu haben, wie das Olaf Scholz gemacht hat.Die deutsche Rüstungsindustrie beklagt, dass – Stand Januar – erst über 10 Milliarden Euro Verträge geschlossen wurden. Aber das Ganze ist ja nicht als Konjunkturprogramm für die deutsche Rüstungsindustrie gedacht.In meinen Augen hat die Rüstungsindustrie diesen Krieg sehr gut ausgenutzt. Gerade Rheinmetall hat schon sehr früh eine Liste von Angeboten vorgelegt und drängt seitdem darauf, dass jetzt möglichst schnell bestellt wird. Zum einen herrscht da Goldgräberstimmung, zum anderen aber auch die Sorge, von dem großen Kuchen nicht genug abzubekommen. Denn die Bundesregierung hat an zwei Stellen Bereitschaft gezeigt, jetzt zügig im Ausland zu bestellen, bei den Chinook-Helikoptern und den F-35-Kampfflugzeugen.Was meinen Sie mit Goldgräberstimmung?Wenn ich als deutsches Rüstungsunternehmen weiß, mein Geschäftspartner – der Staat – hat derart gigantische finanzielle Mittel zur Verfügung, dann fange ich nicht mit dem niedrigsten Gebot an. Sondern ich kalkuliere möglichst großzügig und versuche, das dann durchzusetzen. Vor allem wenn ich weiß, dass die Politik wenig Gegenwehr leisten wird, weil sie unter dem Druck steht, jetzt möglichst schnell zu kaufen.Schon jetzt fordert der neue Verteidigungsminister Boris Pistorius eine zusätzliche Aufstockung des Wehretats um 10 Milliarden pro Jahr.Nach allem, was ich im Gespräch mit Parlamentariern höre, droht das in den nächsten Jahren auf wesentlich mehr hinauszulaufen. Da ist einfach gerade jede Barriere gefallen. Man muss auch gar nicht mehr richtig begründen, wofür man etwas genau braucht und was das technische Konzept dahinter ist. Das ist eben auch Zeitenwende: der Verlust von notwendiger Kontroverse und rationaler Abwägung. Stattdessen erleben wir im Bereich Rüstung gerade eine fürchterliche Hektik, die das politische Handeln prägt. Diese Hektik wird notwendigerweise zu Fehlern führen. Mich erinnert die Stimmung an die Zeit nach 9/11, als man auf eine neue Bedrohung ebenfalls völlig überzogen reagiert hat. Diesen Fehler sollten wir nicht wiederholen.Placeholder infobox-1