Bildung ist Ländersache, Corona geht alle an. Schülerïnnen, die gemobbt werden, weil sie angeblich infiziert sind; Eltern, die gegen die Maskenpflicht Sturm laufen; Lehrerïnnen, die trotz Vorerkrankung im Maßnahmenchaos weiter unterrichten, ihrer Schülerïnnen wegen, und Schulleiterïnnen, die gegen Regeln verstoßen, weil deren Umsetzung unmöglich ist: Das System Schule kommt in der zweiten Welle der Corona-Pandemie an sein Limit.
Die Infektionszahlen steigen, doch die Schulen sollen nicht ein zweites Mal schließen, wegen der Folgen für Kinder, Eltern, die Wirtschaft nicht zu vergessen. Nur: Die Schulen offen zu halten, führt zu ganz anderen, vertrackten Problemen.
Doreen* hat vier Kinder, wohnt in einer Reihenhaussiedlung in Berlin-Pankow und sagt: „Warum war ich so blöd und habe meinen Sohn testen lassen?“ Nicht wegen besonders traumatischer Erlebnisse, sondern wegen des zermürbenden Rattenschwanzes an Verwirrung und Unsicherheit und Massen-E-Mails in Elternverteilern, der auf das positive Testergebnis folgt. Wegen der „Denunziation“, den vielen kleinen Verstimmungen und dem Gefühl, dass jeder auf einmal nur an sich selber denkt.
Ihr Sohn hatte Fieber ohne Erkältungssymptome, war eigentlich schon wieder gesund, trotzdem lässt sie ihn – auf Verdacht hin – testen. Das Ergebnis kommt nach drei Tagen, inzwischen muss der Sohn zu Hause bleiben, nicht aber die Mutter und die Geschwisterkinder in der Kita. Nach drei Tagen lässt sie Finn* – mittlerweile seit zwei Tagen symptomfrei – in der Reihenhaussiedlung vor der Haustür Fahrrad fahren. Ein Nachbarskind sieht ihn, und steckt das dem Klassenlehrer: Der Finn* hat doch Corona, der darf doch nicht raus! Woraufhin der Lehrer zu Hause anruft und sagt: „Sie müssen doch daran denken, was die Leute denken“. Doreen kam sich vor „wie in einem Verhör“.
Der Sohn wird verpfiffen
Die verschiedenen Quarantäneanweisungen sind verwirrend und unterschiedlich lang. Quarantäne heißt Home-Schooling, das aber heißt wacklige Kommunikation, Nachlaufen und Kümmern, um an die Infos zu kommen, was in der Klasse passiert. Es gibt Ausweichtermine, aber Arbeiten müssen doch geschrieben werden. Als der Sohn nach Quarantäneende wieder in die Schule darf, ist der Rest seiner Klasse noch zu Hause. Auf die Frage, was zu machen sei, gibt es von der Schule keine Antwort.
Am ersten Tag nach der Quarantäne kommt Finn traurig nach Hause: Es seien Sprüche gefallen, Kinder, die sich wegsetzen, „Bäh, der hatte Corona!“ Es gab Halbwissen und stille Post, „Oh, wieso, du hattest nicht noch mal einen Test? Da darfst du doch nicht kommen, da kann man dich anzeigen!“ Der Sohn fühlt sich schuldig, weil die ganze Klasse wegen ihm in Quarantäne musste. Die anderen Eltern stöhnen, sagt Doreen, „weil sie ihren Chefs erklären müssen, dass jemand das Virus in die Klasse geschleppt hatte.“ Als ihr Sohn nach seinem Quarantäneende zum Einkaufen geschickt wird, wird er ein zweites Mal „verpfiffen“.
Doreen musste aufklären, richtigstellen, fühlte sich wie an den Pranger gestellt. Sie sagt: „Wenn ich noch mal krank wäre, würde ich mich nicht mehr testen lassen.“
Ryan Plocher unterrichtet Englisch und Politikwissenschaft an einer Gemeinschaftsschule in Berlin-Neukölln. Er sagt: „Kinder brauchen Planungssicherheit. Aber seit März ist Schule kaum mehr planbar“. Ein wichtiger Teil seiner Arbeit schon vor Corona, sagt er, sei es gewesen, „Sicherheit herzustellen“. Vor allem für Kinder, die aus schwierigen, unsicheren Verhältnissen kommen, sei das fundamental. Aber wie soll das gehen, wenn rundherum alles unsicher geworden ist?
In den vergangenen Monaten wurde oft Freitagabends entschieden, wie es in der folgenden Woche in der Schule laufen soll. „Eigentlich sind wir ja eine Behörde“, sagt Plocher, „dass heißt, wir reagieren nicht auf Tweets oder Pressemitteilungen, sondern auf offizielle Anweisung vom Schulamt.“ Eigentlich.
Tatsächlich kommen kurzfristige Ansagen zur Geltung der Maskenpflicht oder zum gestaffelten Unterrichtsbeginn. Die Senatsverwaltung versuche, vieles zentral zu organisieren, wovon nicht alles sich an Schulen umsetzen lässt. „Man weiß nie: Handelt mein Chef gegen die Regeln oder ist das abgestimmt mit der nächsten Ebene?“ Die Maßgabe, dass Schülerïnnen auch in der Pause auf dem Schulhof Maske tragen sollen, finde Plocher „hanebüchen“: „Wir sind eine Ganztagsschule, wir hatten in der Sekundarschule bereits Maskenpflicht im Unterricht. Aber von 8 bis 16 Uhr von Jugendlichen zu verlangen, eine Maske zu tragen?“ Denn die Folge war so logisch wie unbeabsichtigt: Oberstufenschüler, die das Schulgelände verlassen dürfen, tun das nun. Nur um eben mal die Maske abzunehmen. Jetzt aber ohne Aufsicht.
Die Schulen müssen sich inzwischen auch mit Eltern auseinandersetzen, die das Tragen eines Mund-Nase-Schutzes ablehnen. Annett* ist Mutter eines Grundschulkindes in Berlin-Zehlendorf. Sie hält Masken nicht nur für wirkungslos, sondern spricht vom „Totraumvolumen“ darunter, wo sich die ausgeatmete Luft sammele, die dann wieder rückgeatmet werde. In Bayern gebe es bei ganztägiger Maskenpflicht inzwischen vermehrt Fälle, „wo die Kinder um 16 Uhr dann kollabieren und mit dem Kopf auf die Tischplatte klatschen“, sagt Annett. Laut der Neurologin Margareta Griesz-Brisson, deren Videos auf Youtube viel geklickt werden, führe Maskentragen zu einer CO2-Überflutung des Körpers, Gehirnzellen würden wegen Sauerstoffunterversorgung geschädigt. Ihre Thesen sind indes, gelinde gesagt, umstritten. Aber: Wenn es dazu käme, dass die Schule Annets Sohn zwinge, die Maske ganztägig zu tragen, würde sie das „selbstverständlich ablehnen“. „Ich würde mich doch nicht einverstanden erklären“, sagt Annett, „wenn das Kindeswohl meines Sohnes gefährdet werden würde! Ich würde mit dem Jugendamt und einem Anwalt Kontakt aufnehmen, schauen, was man da machen kann. Das wird auf keinen Fall passieren.“ Die Widersprüche zwischen offiziellen Maßnahmen und Elternsicht erinnern Annett an die DDR: „Es gibt eine Außen- und eine Innenwahrheit. Die Dinge, die man abends am Küchentisch bespricht, sind nicht zwangsläufig die gleichen, die man auch in der Schule im Gesinnungsunterricht hört.“
Ehrenamt, aber Vollzeit
Norman Heise, Vorsitzender des Landeselternausschusses Berlin, findet: „Die Pandemie ist für die Schule eine wahnsinnige Belastung, ein Stresstest.“ Denn: Die Lösung, die allen gleichermaßen gerecht wird, gebe es einfach nicht. „Die einen finden die Maßnahmen gut, die anderen lehnen sie ab, den einen gehen sie zu weit, anderen nicht weit genug.“ Heises Amt ist eigentlich Ehrenamt, derzeit nimmt es ihn mehr oder weniger Vollzeit in Anspruch. Die Pandemie zeige vieles, was schon vorher nicht funktioniert habe, wie unter einem Brennglas, etwa die mangelnde Digitalisierung der Schulen. Auch die werde von manchen Eltern abgelehnt: „Aus unterschiedlichen Gründen, bis hin zu Leuten, die sagen: Wir haben zu Hause gar keine Technik, wir wollen keine WLAN-Strahlung und keine Mobilfunkstrahlung.“ Am Ende sind es die Schulen, die sich damit auseinandersetzen müssen.
Ryan Plocher, der Lehrer in Berlin-Neukölln, sagt: „Guter Unterricht ist auf Einheiten aufgebaut, eigentlich plant man eine Einheit über sechs Wochen. Jetzt planen wir Woche für Woche.“
* Name geändert
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