Spirale der Gewalt

USA Zehntausende protestieren gegen Polizeigewalt, während Präsident Trump alles tut, um die Lage zu eskalieren
Ausgabe 23/2020

Es ist eine Woche der rasenden Eskalation, die die USA durchlaufen haben: Am 25. Mai stirbt in Minnesota ein afroamerikanischer Mann in Polizeigewahrsam, sieben Tage später steht das ganze Land in Flammen, und Präsident Trump facht das Feuer weiter an. Eine Chronik von zehn Tagen, die die USA verändern werden.

25. Mai 2020 Minneapolis, Minnesota: Es ist 20.01 Uhr, als ein Angestellter des Eckladens „Cup Foods“ in der Chicago Avenue die Notrufnummer der Polizei wählt. Ein Kunde habe Zigaretten gekauft und mit einer gefälschten 20-Dollar-Note bezahlt. Der Anrufer sagt, der Mann sei betrunken und habe sich „nicht unter Kontrolle“. Der Mann heißt George Floyd, er ist 46 Jahre alt. Afroamerikaner. Floyd wurde in North Carolina geboren und wuchs in Houston, Texas, auf. Er hat zwei Töchter. Bis vor einigen Wochen arbeitete Floyd als Türsteher in einem Restaurant, verlor seinen Job aber wegen der Corona-Pandemie.

20.08 Uhr Zwei Polizisten treffen an der Kreuzung an der Chicago Avenue ein, wo George Floyd gegenüber von „Cup Foods“ in einem Auto sitzt. Die beiden Beamten, Thomas Lane und J. Alexander Kueng, sprechen mit Floyd; Lane zieht kurz seine Waffe, steckt sie dann aber wieder in das Holster. Dann zerren die Beamten Floyd aus dem Wagen, fesseln seine Hände auf dem Rücken und setzen ihn mit dem Rücken an einer Hauswand auf den Bürgersteig. Floyd leistet keinen Widerstand. Das Geschehen wird von mehreren Überwachungskameras und Passanten auf Video festgehalten.

Im Jahr 2019 starben laut der Dokumentationsstelle mappingpoliceviolence.org mehr als 1.000 Menschen in den USA durch die Hand der Polizei, 24 Prozent davon waren Schwarze, obwohl sie nur 13 Prozent der US-amerikanischen Bevölkerung ausmachen. Immer wieder kommen Afroamerikaner in Polizeigewahrsam zu Tode, auch wenn sie unbewaffnet sind oder keine Gegenwehr leisten; viele Fälle bleiben eine Zahl in der Statistik ohne Widerhall in der Öffentlichkeit. Am 25. Mai aber filmt die 17-jährige Passantin Darnella Frazier die Festnahme von George Floyd mit ihrem Handy und stellt die Aufnahmen später auf ihre Facebook-Seite. Das Video wird millionenfach angesehen und geteilt.

20.14 Uhr Die beiden Beamten wollen George Floyd zu ihrem Wagen führen, als er neben dem Polizeiauto zu Boden fällt. In einem Polizeibericht wird später stehen, Floyd habe gesagt, er leide an Klaustrophobie, und habe sich deswegen geweigert, einzusteigen. Die Beamten versuchen, ihn mit Gewalt ins Auto zu bringen. Floyd sagt mehrmals, er kriege keine Luft.

20.17 Uhr Ein weiterer Polizeiwagen mit den Beamten Derek Chauvin und Tou Thao trifft an der Kreuzung ein. In der Vergangenheit gab es bereits 17 Mal Beschwerden gegen Chauvins Verhalten im Dienst, sechs Mal gegen Thao. Chauvin beteiligt sich an den Versuchen, Floyd auf die Rückbank des Polizeiwagens zu schieben. Dann zieht er Floyd aus dem Auto. Floyd liegt nun bäuchlings auf der Straße, Chauvin drückt sein Knie in Floyds Nacken, während die Polizeibeamten Lane und Kueng auf Floyds Rücken und Beinen knien.

20.20 Uhr Floyd atmet schwer und stöhnt, er sagt immer wieder: „Ich kann nicht atmen.“ Die Beamten fordern per Funk medizinische Hilfe an, Floyd sei am Mund verletzt. Obwohl Floyd mit dem Gesicht zum Boden regungslos auf der Straße liegt und mindestens 16 Mal wiederholt: „Ich kann nicht atmen“, drückt ihm Chauvin, eine Hand in der Hosentasche, noch für weitere sieben Minuten das Knie in den Nacken. Dieses Vorgehen ist laut lokalen Polizeivorschriften nur dann angebracht, wenn ein Verdächtiger „aktiven Widerstand“ leistet.

20.25 Uhr Floyd schließt die Augen und scheint das Bewusstsein zu verlieren. Eine Passantin ruft Chauvin zu, er solle von Floyd ablassen. Ein anderer ruft: „Er bewegt sich nicht mehr!“ Eine Frau fordert die Beamten auf, Floyds Puls zu fühlen. Lane fragt Chauvin zweimal, ob sie Floyd auf den Rücken drehen sollen. Chauvin verneint.

20.27 Uhr Zwanzig Minuten nach Floyds Festnahme trifft ein Notarztwagen an der Kreuzung ein. Ein Sanitäter fühlt Floyds Puls, doch Chauvin drückt sein Knie noch eine weitere Minute lang in Floyds Nacken, insgesamt tut er dies acht Minuten und 45 Sekunden lang. Dann wird der leblose Floyd auf eine Bahre gelegt und in den Krankenwagen geschoben.

20.32 Uhr Ein Notarztwagen der Feuerwehr trifft an der Kreuzung ein, erhält aber von den Polizisten keine klaren Informationen zu Floyd und seinem Aufenthaltsort. Inzwischen wird bei Floyd ein Herzinfarkt diagnostiziert. Der Notarzt der Feuerwehr braucht fünf weitere Minuten, bis er die Sanitäter und Floyd erreicht.

21.25 Uhr In einem nahe gelegenen Krankenhaus wird George Floyd für tot erklärt.

26. Mai Die Polizeidirektion von Minneapolis entlässt die Polizeibeamten Chauvin, Lane, Kueng und Thao aus dem Dienst. Am Nachmittag und Abend sammeln sich Hunderte Demonstranten auf den Straßen der Stadt; auch vor dem Polizeiabschnitt der am Tod von Floyd beteiligten Beamten, dem Third Precinct, kommt es zu Protesten, Scheiben werden eingeschlagen. Einige Geschäfte, darunter ein Restaurant und ein Geschäft für Auto-Ersatzteile, werden in Brand gesetzt; die Polizei setzt Tränengas und Gummigeschosse ein. Die Demonstrationen in Minneapolis dauern auch in den folgenden Tagen an.

27. Mai Demonstrationen finden nun auch in mehreren anderen Städten statt, darunter Memphis und Los Angeles. In Minneapolis werden mehr als 30 Geschäfte in Brand gesetzt oder geplündert, weitere 170 in der Nachbarstadt St. Paul.

28. Mai Präsident Donald Trump schreibt auf Twitter, er habe das FBI gebeten, die Ermittlungen zum „traurigen und tragischen Tod“ von George Floyd zu beschleunigen. Der Gouverneur von Minnesota, Tim Walz, ordnet den Einsatz der Nationalgarde an. Demonstranten belagern den Third Precinct, Beamte versuchen, sie mit Tränengas zu vertreiben. Dann überrennen die Demonstranten das Gebäude des Polizeiabschnitts und setzen es in Brand.

In den nächsten Tagen kommt es zu Hunderten Demonstrationen in den USA. Zehntausende protestieren in Dutzenden von Städten, es gibt friedliche Kundgebungen, Ausschreitungen, Plünderungen und Brandstiftungen. Weitere Fälle von Polizeigewalt werden dokumentiert, etwa der Einsatz von Pfefferspray und Gummigeschossen gegen friedliche Demonstranten. Auch Medienvertreter werden geschlagen, grundlos festgehalten oder kurzzeitig festgenommen.

Foto: Dai Sugano/Medianews Group/Getty Images

29. Mai Gouverneur Walz ordnet für das Wochenende eine Ausgangssperre zwischen 20 Uhr und 6 Uhr in Minneapolis an. Präsident Trump schreibt auf Twitter, die Ereignisse in Minneapolis offenbarten die Führungsschwäche des „linksradikalen Bürgermeisters“ Jacob Frey. Wenn Frey die Lage nicht unter Kontrolle bringe, werde er, Trump, die Nationalgarde entsenden und für Ordnung sorgen.

Der Polizist Derek Chauvin wird wegen Verdachts auf Totschlag festgenommen. Ein vorläufiger Autopsiebericht urteilt, George Floyd sei an einem Herzinfarkt gestorben, der durch die Fesselung und den Druck auf seinen Nacken und Brustkorb ausgelöst wurde; Floyd habe an Bluthochdruck und koronarer Herzerkrankung gelitten.

Trump schreibt auf Twitter: „Wenn geplündert wird, wird geschossen“, und erklärt später, dies sei kein Aufruf gewesen, sondern eine Tatsache, es sei in Minneapolis passiert und in Louisville. Dann drückt er der Familie von Floyd sein Beileid aus.

Am Abend kommt es zu Protesten vor dem Weißen Haus. Demonstranten werfen Wasserflaschen auf Polizisten, die den Kordon um den Amtssitz schützen, und versuchen, ihn zu durchbrechen. Trump verbringt einige Zeit in dem Bunker unter dem Weißen Haus.

30. Mai Trump twittert, der Einsatz des Sicherheitsdienstes zum Schutz des Weißen Hauses am Abend vorher „hätte cooler nicht sein können“. Die Menge sei groß gewesen und professionell organisiert, trotzdem hätte sie die Absperrung nicht überwunden. Wenn es jemand doch geschafft hätte, wäre er mit den „bösartigsten Hunden und bedrohlichsten Waffen“ begrüßt worden, „die ich je gesehen habe“. Bei den Demonstranten handele es sich um „organisierte Gruppen“, um „ANTIFA und die radikale Linke“, die mit George Floyd nichts zu schaffen hätten.

In vielen Städten kommt es am Abend sowohl zu friedlichen Protesten als auch zu Unruhen. In Minneapolis legen Menschen Blumen an der Kreuzung nieder, an der Floyd in Polizeigewahrsam geriet. Trotz Ausgangssperre finden Kundgebungen statt; die Polizei setzt Tränengas, Blendgranaten und Gummigeschosse ein. In New York fordern Tausende ein Ende der Polizeigewalt, am selben Tag fährt ein Polizeiauto absichtlich in eine Menschenmenge. In Los Angeles, wo nach zwei Tagen gewalttätiger Proteste der Notstand ausgerufen wurde, kommt es zu mehreren Zusammenstößen zwischen Polizei und Demonstranten. Auch in Nashville, Salt Lake City, Cleveland, Cincinnati, Columbus, Raleigh, Louisville, Atlanta, Dallas und Washington finden Kundgebungen statt.

31. Mai Präsident Trump schreibt auf Twitter, dass die USA „ANTIFA“ als Terrororganisation einstufen werden.

1. Juni Eine Autopsie, die von den Verteidigern von Georg Floyds Angehörigen in Auftrag gegeben wurde, kommt zu dem Schluss, Floyd sei an einer Asphyxie gestorben, also an Atemstillstand, der vom Zusammendrücken seines Brustkorbes hergerührt habe.

Trump hält eine Rede im Rosengarten des Weißen Hauses, in der er die gewaltsamen Proteste als „Terror“ bezeichnet und den Einsatz der US-Armee ankündigt, sollten lokale Behörden nichts gegen die Unruhen unternehmen. Er werde die Verfassung, und besonders das Recht, Waffen zu tragen, schützen. Viele verstehen die Drohung, die Armee im Inland einzusetzen, als protofaschistisch, und interpretieren den Hinweis auf das „Second Amendment“ als Aufforderung an Rechtsextreme und bewaffnete Milizen, sich den Protesten entgegenzustellen. Trump kündigt eine Ausgangssperre für 19 Uhr an. Anschließend besucht er die St. John’s Church gegenüber dem Weißen Haus, die am Abend zuvor leichte Schäden durch einen Brand davongetragen hat. Trump hält demonstrativ eine Bibel in die Kamera. Um seinen Spaziergang, an dem sich auch Verteidigungsminister Mark Esper beteiligt, zu ermöglichen, wird eine friedliche Demonstration vor dem Weißen Haus von der Polizei mit Tränengas auseinandergetrieben.

Die Proteste in Minneapolis bleiben friedlich, aber in St. Louis werden vier Polizisten angeschossen, in New York werden Geschäfte auf der Fifth Avenue geplündert. In Philadelphia schießt die Polizei Gummigeschosse auf Demonstranten, die den Verkehr blockieren. Dann marschieren Hunderte von weißen Männern mit Baseballschlägern durch die Straßen, es handelt sich offenbar um Trump-Anhänger.

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