Guckt mal nach Lützerath: Wer ist hier der Klimaterrorist?

Meinung RWE macht Lützerath platt, die Bundesregierung hilft dabei: Aber das sind nicht die einzigen, die Gewalt gegen unseren Planeten ausüben
Lützerath wird von der Polizei geräumt
Lützerath wird von der Polizei geräumt

Foto: Ina Fassbender/AFP/Getty Images

„Rentnerschwemme“, „notleidende Banken“, „Döner-Morde“, „Corona-Diktatur“ oder „Anti-Abschiebe-Industrie“ hatten wir schon, jetzt kommt „Klimaterroristen“ in der Liste des „Unwort des Jahres“ dazu: Der Ausdruck sei 2022 im öffentlichen Diskurs benutzt worden, um Proteste für mehr Klimaschutz zu kriminalisieren, begründete die Jury der „Gesellschaft für deutsche Sprache“ ihre Wahl. „Unter Terrorismus ist das systematische Ausüben und Verbreiten von Angst und Schrecken durch radikale physische Gewalt zu verstehen.“ Durch die Gleichsetzung des Protests für den Erhalt der Lebensgrundlage werde der demokratische Widerstand in den Kontext von Gewalt und Staatsfeindlichkeit gestellt – und damit diffamiert und diskreditiert, so die Begründung.

Eine Entscheidung zur rechten Zeit: Die Polizei hat am Mittwoch damit begonnen, das Dorf Lützerath am Tagebau Garzweiler von Klimaaktivist:inen zu räumen, damit der Kohlekonzern RWE weiterhin die Natur plündern kann. „Der Einsatz wird extrem herausfordernd“, urteilt Polizeipräsident Dirk Weinspach, pikanterweise mit bündnisgrünem Parteibuch. Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul (CDU) sorgt sich um die Sicherheit der Polizei. „Wir haben in Lützerath einen gewissen Anteil an gewaltbereiten Aktivisten.“ Auch Thomas Haldenwang, der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, erwartet „gewalttätige Krawalle.“ Er verwies auf den Klima-Protest im Hambacher und Dannenröder Forst, wo es „ein brutales Vorgehen gegen die Räumung“ gegeben habe. Von staatlicher Seite scheint die Sache also klar mit den „Klimaterroristen“.

Fragt sich: Wie definieren wir Gewalt? Deutschland ist das einzige Industrieland, in dem es noch immer kein Tempolimit gibt. Würde bei uns Tempo 100 gelten, die Deutschen könnten nach Berechnungen des Umweltbundesamtes jährlich glatt 5,4 Millionen Tonnen Kohlendioxid-Äquivalente einsparen. Das ist mehr als die 12 Millionen Menschen, die im ostafrikanischen Land Burundi leben, insgesamt durch essen, wohnen, kleiden verursachen. In Burundi aber haben extreme Wetterverhältnisse wie andauernder Starkregen bereits derart zugenommen, dass 100.000 Menschen wegen des Klimawandels fliehen mussten – obwohl die Menschen in Burundi mit einem Treibhausgas-Ausstoß von 0,06 Tonnen pro Kopf und Jahr zum Problem doch gar nichts beigetragen haben. Wir Deutschen sind dagegen für knapp 8 Tonnen pro Kopf und Jahr verantwortlich, als klimaverträglich gelten 1,5 Tonnen pro Mensch weltweit.

„Klimaterroristen“: Wir machen uns alle schuldig

Die Klimaaktivist:innen führen an, dass es praktisch unmöglich wird, die im Pariser Klimaabkommen festgeschriebenen Ziele noch zu erreichen, wenn die Braunkohle unter Lützerath im Kraftwerk verbrannt wird. Das ist kein Hirngespinst von Panikmachern, sondern Wissenschaft, wie ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung belegt. Auch sagt uns die Wissenschaft, dass bereits bei einer Erderwärmung oberhalb von 1,5 Grad – diese Zielmarke formuliert das Paris-Abkommen – mindestens sechs Kippelemente instabil werden. Der Grönländische Eisschild wird oberhalb von 1,5 Grad gnadenlos abschmelzen und den Meeresspiegel um sieben Meter anheben, der Permafrost wird auftauen und heute noch festgefrorene Treibhausgase freisetzen, genauso wie der Amazonasregenwald, der uns heute noch beim Klimaschutz hilft, weil er der Atmosphäre Kohlendioxid entzieht. Bis zu 90 Prozent aller Korallen werden sterben, das Eis der Antarktis beginnt zu schmelzen. Weitere 50 Meter Meeresspiegelanstieg sind die Folge. Studien-Co-Autorin Ricarda Winkelmann vom Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung urteilt: „Unser Handeln heute entscheidet darüber, wie sich das Gesicht unseres Planeten über Jahrhunderte oder sogar Jahrtausende verändert.“

Insofern bekommt die Wahl zum „Unwort des Jahres“ eine zweite Dimension: Wenn wir Deutschen nicht schleunigst etwas ändern an unserer Art Ressourcen und Energie zu verbrauchen, machen wir uns alle schuldig. Nicht einmal der grausame Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass wir etwas ändern in unserem Leben, wenigstens ein bisschen. Die Weihnachtsmärkte waren hell erleuchtet, gut besucht und selbst jetzt noch erstrahlt der Weihnachtsbaum im Stadtzentrum in lichtem Glanze.

Energiekrise? Ach wär das schön! Wir müssten tatsächlich mal auf zwei Grad Raumtemperatur verzichten, auf Tempo 280 beim ICE, das Aufladen des iPhones, den Besuch der Sauna und nächtlich hell erleuchtete Parkplätze und den Computer über Nacht jetzt wirklich einmal runterfahren. So viel nämlich steht fest: Wenn es in 30 Jahren zu spät sein wird, der sich immer weiter aufheizenden Erde Einhalt zu gebieten, werden wir von unseren Nachkommen gefragt werden: Habt ihr das damals nicht gewusst?

Doch. Wir wussten es. Nur haben wir damals mit unserer Lebensweise „radikale physische Gewalt“ auf den Planeten und seine Mitbewohner vor allem im globalen Süden ausgeübt. Kurzum: Wir alle waren „Klimaterroristen“.

Nick Reimer, Wirtschafts- und Umweltjournalist, hat 2021 zusammen mit Toralf Staud das Buch Deutschland 2050. Wie der Klimawandel unser Leben verändern wird veröffentlicht

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