„Wir kämpfen für den Systemwechsel, klar“

Interview Jennifer Morgan ist Greenpeace-Chefin und will der Natur eine Stimme geben. Wenn nötig mit „Mindbombs“
Ausgabe 52/2020

Greenpeace hat drei Millionen Mitglieder in mehr als 40 Ländern: Macht das die NGO zu einer gewaltlosen Globalarmee für die Belange der Natur? Oder einem Wohlfühlangebot, bei dem durch Mitgliedsbeiträge schlechtes Klimagewissen abgegolten wird? Jennifer Morgan ist seit 2016 die Frau an der Spitze von Greenpeace International.

der Freitag: Frau Morgan, nächstes Jahr feiert Greenpeace 50. Geburtstag. Was ist Greenpeace heute? Eine Aktivistentruppe? Eine Lobbygruppe für die Umwelt?

Jennifer Morgan: Ich denke, Greenpeace ist im Kern eine Organisation von Aktivistïnnen, die Umweltskandale bezeugen und mit friedlichen Aktionen für den Schutz der Umwelt und Veränderungen streiten. Wir haben eine klare Mission und setzen uns mit allen nötigen gewaltfreien Mitteln dafür ein. Das kann heißen, dass wir Unternehmen verklagen, dass wir eine Ölplattform besetzen oder eine Demonstration organisieren.

Greenpeace hat eine Form des Protests entwickelt, bei der durch spektakuläre Aktionen weniger Aktivistïnnen mächtige Bilder entstehen, die eine Bewusstseinsveränderung anstoßen sollen: Funktioniert das heute so noch?

Wenn sich die Gründer von Greenpeace mit einem Schlauchboot zwischen die Harpune eines großen Walfangschiffs und den Wal manövrierten, dann nannten sie das eine „Mindbomb“. Die Idee dahinter ist, durch eine Aktion mit einem starken Bild den Kern eines Problems klarzumachen. Das ist immer noch ein wichtiger Teil dessen, was wir tun. Aber natürlich funktioniert es anders in einer Gesellschaft, die von Bildern überflutet wird.

Ihr Ansatz war immer, Kampagnen mit klaren Zielen zu fahren: das Stopp des Walfangs etwa oder ein Ende der Versenkung von Ölplattformen im Meer. Die Kampagne war zu Ende, wenn das Ziel erreicht war. Ist es da überhaupt möglich, eine Kampagne gegen den Klimawandel zu führen?

Unser „Framework“ – das ist so etwas wie unser Zehnjahresplan – hält fest, dass wir einen Systemwechsel brauchen. Es reicht nicht, ein Kohlekraftwerk abzuschalten oder ein Stück Wald zu retten, wenn die Umweltzerstörung derart umfassend und derart schnell abläuft. Es geht vielmehr darum, Machtdynamiken zu bewegen und Bewusstsein zu verändern. Wenn wir über den Klimawandel sprechen, dann sprechen wir eigentlich über den Komplex der fossilen Industrie, die Kohle- und Ölkonzerne, die Autobranche. Deren Einfluss kann nur zurückgedrängt werden, wenn wir in vielen Ländern die Machtverhältnisse verändern.

Viele verstreute Angriffspunkte also für ein gemeinsames Ziel?

Wir sehen bei unseren Kampagnen immer deutlicher, wie alles miteinander zusammenhängt. Diese Themen haben enorme Schnittmengen: Die Kräfte, die die Natur ausbeuten, sind dieselben Kräfte, die die Menschen unterdrücken. Wenn man sich die fossile Energiebranche ansieht, dann ist klar, dass die Ölindustrie keinen Wahlkampf in den USA mehr finanzieren sollte: Das ist für Greenpeace genauso wichtig wie für Black Lives Matter. Um die Erderwärmung zu begrenzen, braucht es viele verschiedenen Kampagnen unter diesem Oberziel. Und es braucht eine systematische Herangehensweise, die in einem Moment des Bruchs die Veränderung beschleunigen kann.

Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zur Natur? Wie wichtig ist es für Ihre Arbeit?

Es spielt eine große Rolle: Es ist der Grund, warum ich das tue, was ich tue. Wir sind so verflochten und abhängig von der Natur ... Ich habe immer eine tiefe Verantwortung gespürt, der Natur in den Entscheidungsprozessen unserer verrückten Welt eine Stimme zu geben. Insekten, Korallen, der Regenwald – all dies ist überlebenswichtig für uns, dennoch sind wir dabei, es zu zerstören. Ich möchte helfen, den von Konzernen bedrohten Teilen der Natur eine Lobby zu geben.

Sie haben einmal gesagt, wie wichtig Petra Kellys Buch „Um Hoffnung kämpfen. Gewaltfrei in eine grüne Zukunft“ für Sie war.

Für mich war das eine Offenbarung ... Kelly schrieb über die Anti-Atomkraft-Bewegung, die Frauenbewegung, die Friedensbewegung, und sie fasste in Worte und politische Programmatik, was ich vage gedacht hatte, aber nicht hätte formulieren können. Das Buch hat mir geholfen zu verstehen, wie Veränderung möglich ist und wie all jene Dinge, die ich verändern wollte, miteinander zusammenhingen.

Zur Person

Jennifer Morgan, 54, ist in New Jersey aufgewachsen, in der Nähe eines großen Waldstücks mit kleinem See und Felsen zum Klettern, wohin sie zum Spielen ging. Sie hat ihre Masterarbeit über die Rolle der Umwelt in den Revolutionen 1989 in Mittel- und Osteuropa geschrieben. Nach ihrem Studium arbeitete sie für verschiedene Klima-NGOs, darunter das World Resources Institute, das Climate Action Network und E3G. Seit 2016 ist sie Geschäftsführerin von Greenpeace International.

Hat Sie Fridays for Future überrascht? Ist die Massenbewegung für das Klima nicht auch eine Konkurrenz für Greenpeace?

Ich war nicht überrascht. Ich war bestürzt, dass wir einen Punkt erreicht haben, wo Jugendliche auf die Straßen gehen müssen, weil die eigentlich Zuständigen und Verantwortlichen dabei versagen, den Klimawandel aufzuhalten. Nicht nur Greenpeace, eine ganze Generation von Regierenden und Leuten in Führungspositionen. Zugleich bin ich restlos begeistert, dass es diese Bewegung gibt, Gruppen wie Fridays for Future, Ende Gelände oder das Sunrise Movement in den USA. Natürlich gibt es unter diesen Organisationen verschiedene Perspektiven, aber im eigentlichen Ziel stimmen wir überein. Deshalb ist es auch nicht wichtig, dass diese Leute Greenpeace-Mitglieder werden, wichtig ist, dass sich mehr Menschen aktiv für den Schutz unserer Lebensgrundlagen einsetzen!

Sie waren mehrmals beim World Economic Forum (WEF) in Davos und bei der Sicherheitskonferenz in München. Was sind Sie, wenn Sie dort auftreten? Eine Lobbyistin für die Umwelt?

Wir entscheiden jedes Jahr von Neuem, ob es sich lohnt, an solchen Treffen teilzunehmen. Klar repräsentiert das WEF oder die Sicherheitskonferenz ein System, das wir verändern wollen. Nur: Wir versuchen permanent die Aufmerksamkeit der Leute zu bekommen, die sich bei solchen Veranstaltungen treffen, wir klettern auf ihre Bürotürme oder besetzen ihre Bohrplattformen. Wenn die nun alle in einem Raum versammelt sind und ich sie direkt konfrontieren kann, dann finde ich es sinnvoll, dort aufzutreten. Was ich dann bin? Jemand, der die Konfrontation sucht? Jemand, der versucht, den Leuten dort die Stimmung zu vermiesen? Ich gehe jedenfalls nicht dahin, um den Leuten zu schmeicheln, sondern um ihnen die Wahrheit ins Gesicht zu sagen. Auf der Sicherheitskonferenz in München habe ich vorgeschlagen, dass CO₂-Emissionen in Zukunft als „Kohlenstoffbomben“ eingestuft werden sollen, als Massenvernichtungswaffen, die gar nicht erst produziert werden dürfen.

Manchmal appelliert Greenpeace aber auch an das Eigeninteresse zum Beispiel der Autoindustrie: Wenn sie überleben wolle, müsse sie grüner werden. Kämpfen Sie für den Systemwechsel oder den grünen Kapitalismus?

Für den Systemwechsel, ganz klar! Wenn wir sagen, dass die Autoindustrie verschwinden wird, wenn sie sich nicht verändert, wollen wir nicht ihre Bilanzen retten. Wir versuchen, in die Zukunft zu blicken ... Als wir vor zehn Jahren modellieren ließen, wie schnell Deutschland seine Energieversorgung auf Erneuerbare umstellen kann, wurden wir ausgelacht. Heute zeigt sich, dass wir näher an der Wirklichkeit waren als jedes andere Szenario. Wir sprechen nur aus, was aus unserer Sicht mit der Autoindustrie passieren wird, wenn sie nicht sehr schnell auf die Veränderungen reagiert. Aber wir wollen das System nicht erhalten, sondern verändern.

Sie werden ähnlich kritisiert wie Fridays for Future: Sie seien nicht demokratisch legitimiert, niemand habe sie gewählt, es gebe keine Rechenschaftspflicht.

Unsere Organisation fußt auf dem Vertrauen, das die Leute uns entgegenbringen. Sie trauen uns zu, mit ihnen gemeinsam Veränderungen zu erreichen. Wir haben Mitgliederversammlungen, die ihre Vertreter wählen, wir sind transparent und legen in Jahresberichten offen, was wir tun. Natürlich ist das immer ein Balanceakt zwischen dem Anspruch, möglichst viele Menschen einzubinden, und der Notwendigkeit, sich klar festzulegen, um größtmögliche Wirkung zu erzielen.

Tut die deutsche Regierung genug gegen den Klimawandel?

Absolut nicht. Teilweise ist sie sogar dafür verantwortlich, dass die Dinge in die falsche Richtung laufen, etwa wenn sie nötige Schritte der EU beim Klima- und Naturschutz verlangsamt, statt sie zu beschleunigen.

Was wären die drei drängendsten Dinge, die Sie von der Bundesregierung fordern würden?

Drei Dinge ... oh, wow. Okay, als Erstes sollten wir unsere Prioritäten ändern und das Wohlergehen der Menschen auf diesem Planeten über die kurzfristigen Interessen von Unternehmen stellen. Die Bundesregierung scheint die Autoindustrie heute wichtiger zu nehmen als zum Beispiel die Gesundheit von Kindern, sonst wäre es nicht so schwierig, Fahrradwege zu bauen oder eine 30er-Zone einzurichten. Zweitens: Eine grundsätzliche Neuausrichtung der Landwirtschaft. Die Öffentlichkeit hat während der Pandemie gesehen, welche für Mensch und Tier unwürdigen Bedingungen in der Fleischindustrie herrschen. Wir wissen auch, dass die Massentierhaltung ein enormes Klimaproblem darstellt. Es gibt bislang keine Nachhaltigkeit in dieser Branche. Wir werden die Klima- und Artenschutzziele aber nur erreichen, wenn sich die industrielle Landwirtschaft und Tierproduktion fundamental verändert. Drittens brauchen wir eine echte Verkehrswende: eine, die sozial verträglich ist und allen Menschen eine Mobilität erlaubt, die nicht länger Natur und Klima zerstört. Was alle drei Anliegen verbindet, ist der soziale Aspekt. Wir sind eine Umweltschutzorganisation, aber wir wissen, dass eine ökologische Wende nicht genügt, wir brauchen eine sozio-ökologische Wende. Eine Transformation zu einer besseren Welt ist nur möglich, wenn wir auch die soziale Ungleichheit angehen

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Pepe Egger

Ressortleiter „Wirtschaft“ und „Grünes Wissen“

Pepe Egger ist Redakteur für Wirtschaft, Grünes Wissen und Politik. Er hat in Wien, Paris, Damaskus und London studiert und sechs Jahre im Herzen des britischen Kapitalismus, der City of London, gearbeitet. Seit 2011 ist er Journalist und Reporter. Seine Reportagen, Lesestücke und Interviews sind verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften erschienen. 2017 und 2019 wurden seine Reportagen für den Henri-Nannen- bzw. Egon-Erwin-Kisch-Preis nominiert. 2017 wurde Pepe Egger mit dem 3. Platz beim Felix-Rexhausen-Preis ausgezeichnet. Seit 2017 arbeitet er als Redakteur beim Freitag.

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