Wäre es nicht schön, wir könnten konzentrierter arbeiten, besser schlafen und glücklicher sein? Warum aber etwa Erwachsene Ritalin schlucken, um all dies zu erreichen, ist eine der Fragen, die die Soziologin Greta Wagner von der Goethe-Universität Frankfurt am Main untersucht hat.
der Freitag: Frau Wagner, was tun wir eigentlich, wenn wir uns selbst optimieren?
Greta Wagner: Nun, das fängt ja schon damit an, dass wir uns selbst zum Gegenstand einer Evaluation machen: Welche Bereiche unseres Lebens sind optimierungsbedürftig? Ist es erholsamer Schlaf? Effektive Arbeitszeitnutzung? Die Steigerung der eigenen Kreativität, der eigenen Fitness oder doch ein ausgeglichenes Gefühlsleben? Der nächste Schritt ist, dass wir Techniken der Optimierung auf uns selbst anwenden: Wir lesen Ratgeber, laden Apps herunter, mit denen wir unsere Leistung überwachen, engagieren Coaches, wenn wir es uns leisten können, entwicklen Trainingspläne. Oder: Wir denken einfach viel darüber nach, wie wir uns selbst in verschiedenen Bereichen unseres Lebens verbessern könnten.
Das setzt voraus, dass wir uns selbst als formbar ansehen.
Ja, der Körper, die Psyche, selbst das Organ Gehirn gelten heute als gestalt- und damit eben auch als optimierbar. Wer sich dem entzieht, stößt zunehmend auf Unverständnis oder sogar Missachtung.
Woran knüpfen Sie Ihren Befund, dass die Selbstoptimierung zunimmt und immer mehr Lebensbereiche durchdringt?
Es gibt mittlerweile Studien, die Apps zur Selbstvermessung oder zur Optimierung des eigenen Gefühlslebens untersuchen. Dann habe ich Ratgeberliteratur untersucht, die dazu anleitet, durch Achtsamkeitsübungen den beruflichen Erfolg zu verbessern. In meiner Dissertation habe ich Neuroenhancement empirisch untersucht: Das ist die Einnahme von Psychopharmaka wie Ritalin durch Erwachsene, die – ohne Diagnose – Medikamente konsumieren, um sich besser konzentrieren zu können, aufmerksamer und produktiver zu sein. Die Gemeinsamkeiten dieser Einzelphänomene bestehen erstens darin, dass sie an Bedeutung gewinnen, und zweitens, dass sie mit dem Ziel ausgeführt werden, den eigenen Ansprüchen besser zu genügen. Die wenigsten sagen, mein Chef verlangt das oder mein Partner. Das wirft natürlich die Frage auf: Warum sind die Ansprüche an das eigene Selbst so hoch geworden, dass es als ständig bearbeitungsbedürftig erscheint?
Zur Person
Greta Wagner, 36, ist Soziologin und arbeitet im Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Ab September 2018 forscht sie am Institute for Advanced Study in Princeton. 2017 hat sie die Monografie Selbstoptimierung. Praxis und Kritik von Neuroenhancement veröffentlicht. Schon 2013 erschien der Band Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft, den Greta Wagner mit herausgegeben hat
Wann hat das eigentlich angefangen? Wann wurde aus Selbstentfaltung eine Anforderung, ein Zwang zur Selbstoptimierung?
Verschiedene gesellschaftliche Entwicklungen sind da aufeinandergetroffen: Auf der einen Seite gab es in den 1960er und ’70er Jahren in den sozialen Bewegungen eine Kritik an entfremdenden Arbeitsverhältnissen und mangelnden Möglichkeiten der Selbstentfaltung. Auf der anderen Seite entstanden in den 1980ern neue Managementstrategien, bei denen eben diese Selbstentfaltungsansprüche zur Profitsteigerung genutzt wurden, indem Angestellte dazu angehalten wurden, sich kreativ in die Suche nach Problemlösungen einzubringen. Und schließlich kam es in den 1990ern zu einer Entgrenzung von Wettbewerben, bei der Güter in immer größerem Ausmaß und immer kürzeren Abständen wettbewerblich verteilt werden. Das heißt: Die Ansprüche auf Selbstverwirklichung sind Ergebnis sozialer Kämpfe, die Kontexte von Selbstverwirklichung dabei aber immer konkurrenzieller, also dem Wettbewerb unterworfen, geworden.
Wozu führt das?
Wir betrachten die Selbstoptimierung als Ausdruck unserer autonomen Lebensgestaltung, während die neoliberale Politik, die in einer umfassenden Zuschreibung von Eigenverantwortung besteht – sei es für die eigene Gesundheit, die eigene Altersvorsorge und die eigene Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit –, genau diese Selbstoptimierungspraktiken miterzeugt.
Früher mussten Bauern jahrein, jahraus die gleichen Tätigkeiten verrichten, während Künstler oder Intellektuelle daran arbeiteten, die eigenen Fähigkeiten, und damit sich selbst, zu verbessern. Wurde Letzteres auf die ganze Gesellschaft übertragen?
Ja, diese Anforderung wurde verallgemeinert. Sie hat auch durch die Ausweitung des Dienstleitungssektors zusätzlich an Bedeutung gewonnen. Angestellte in Wissensberufen werden dazu angehalten, ihre Kreativität in Wert zu setzen, nach dem Vorbild der Figur des Künstlers als kreativ und authentisch schaffend. Allerdings gibt es weiterhin viele Berufe, insbesondere im Niedriglohnsektor, in denen Mitbestimmung keine Rolle spielt und wo der nach unten weitergegebene Marktdruck die Menschen zu Leistungssteigerungen zwingt, ohne dass das mit der Hoffnung auf Selbstverwirklichung verknüpft wäre.
Ist Selbstoptimierung nicht ein unerfüllbares Ziel? Eine permanente Selbstüberforderung?
Zunächst ziehen die Praktiken der Selbstoptimierung ja auch deshalb so viele in ihren Bann, weil – wo sie gelingen – damit Selbstwirksamkeitserfahrungen verbunden sind, die viel Freude bereiten. Problematisch ist, wenn die Verbesserungsversuche alle Lebensbereiche umfassen. Dann geraten sie miteinander in Konflikt: Ich kann nicht gleichzeitig eine perfekte Wissenschaftlerin und eine perfekte Mutter sein, weil beides Zeit braucht. Wenn ich dann noch der Meinung bin, mehr Sport treiben zu müssen und mich gesünder zu ernähren, dann droht schnell der Verschleiß der eigenen Ressourcen. Obwohl diese Praktiken ja vorgeblich die eigenen Ressourcen regenerieren sollen.
Optimieren Frauen sich anders selbst als Männer?
Ja. Auch Männer empfinden inzwischen einen starken Optimierungsdruck bei ihrem Aussehen. Aber für Frauen ist er größer, weil sie stärker nach ihrem Aussehen beurteilt werden. Und weil das Schönheitsideal für den weiblichen Körper weiter vom Durchschnitt aller weiblichen Körper entfernt ist als bei Männern. Sorgearbeit ist ein weiteres Feld: Frauen übernehmen in den meisten Partnerschaften, Familien und Teams mehr emotionale Arbeit. Sie versuchen, emotional unterstützend zu sein, und reflektieren ihre eigenen Emotionen mehr. Sorgearbeit ist ein Feld, in dem Männer im Durchschnitt viel weniger Optimierungsbedarf verspüren, weil sie dafür weniger Verantwortung übernehmen.
Wie wirkt sich das auf die Gesundheit aus? Optimieren wir uns gerade alle ins Burnout?
Die Anzahl der Arbeitsunfähigkeitstage aufgrund psychischer Belastungen steigt seit Jahren an, die Zahl der Überstunden nimmt zu. Frauen werden dabei deutlich häufiger wegen einer Depression oder eines Burnouts krankgeschrieben als Männer. Burnout ist aber kein Leiden, das durch ein schlichtes Zuviel an Arbeit entsteht. Der Erschöpfungszusammenbruch droht vor allem dann, wenn großer Leistungsdruck durch eigene und fremde Ansprüche mit mangelnden Ressourcen am Arbeitsplatz aufeinanderprallen und wenn versucht wird, das mit erhöhtem Einsatz auszugleichen.
Ist die flexibilisierte Arbeitswelt, bei der Beschäftigte immer mehr Dinge in Eigenverantwortung erledigen, gesundheitsschädlich?
Ja, dabei sind es nicht die Freiheiten, Gestaltungsspielräume und flexiblen Arbeitszeiten, die auf die Gesundheit schlagen, sondern dass diese scheinbaren Freiheiten mit enormen Unfreiheiten einhergehen. Wenn ich selbst entscheiden kann, wann und wo ich arbeite, die Deadline meines Projektes aber erfordert, dass ich extrem viel arbeite, dann ergeben sich aus den Gestaltungsmöglichkeiten nicht unbedingt Freiheitsgewinne, sondern es droht die Gefahr der Selbstausbeutung und Erschöpfung. Viele Firmen reagieren darauf, indem sie psychologische Beratungen anbieten, Zeitmanagementkurse oder Achtsamkeitstrainings, also Angestellte zur Arbeit am eigenen Selbst anhalten. Dabei handelt es sich aber wieder um eine Individualisierung des Problems. Die Ursachen liegen in der Regel eher in einer zu dünnen Personaldecke: Das zu ändern, ist natürlich viel teurer als ein Achtsamkeitskurs.
Erzeugt die Tendenz zur Selbstoptimierung nicht selbst die Gruppe jener, die nicht mithalten können?
In gewisser Weise schon. Die Vorstellung, dass jede und jeder selbst für eigenen Erfolg und die eigene Leistungsfähigkeit verantwortlich ist, schafft die Illusion, dass, wer scheitert und krank wird, daran selbst die Schuld trägt. Das produziert einerseits große Scham bei den Betroffenen und, um diese abzuwehren, mitunter auch Ressentiment. Die Ausstattung mit materiellen und symbolischen Ressourcen ist aber enorm ungleich, und damit die Möglichkeiten der Selbstoptimierung. Die Kultur der Selbstzuständigkeit macht diese Ungleichheiten schwerer thematisier- und politisierbar.
Aber ist es andersherum überhaupt möglich, sich dem Imperativ zu entziehen?
Ich denke schon. Das wird von einigen ja auch gemacht. Wenn ich durchblicke, welche gesellschaftlichen Entwicklungen den Drang zur Selbstoptimierung hervorgebracht haben, dann kann ich ihn auch hinterfragen. Es ist aber wichtig, hier nicht die ganze Widerständigkeit wieder den Einzelnen aufzubürden. Sich in Eigenverantwortung der Selbstoptimierung zu verwehren, schlägt in dieselbe individualisierende Kerbe.
Was können wir kollektiv dagegen tun?
Überall da, wo im Modus der Kooperation interagiert wird und nicht im Modus des Wettbewerbs, verliert die individuelle Selbstoptimierung an Bedeutung. In solidarischen Zusammenhängen, in denen man sich in Krisenzeiten wechselseitig unterstützt, muss man sich eben nicht durch die Optimierung der eigenen Leistungsfähigkeit absichern. Sondern man kann sich trauen, sich auf andere zu verlassen.
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