Kabel im Denkraum

Nachrichtentechnik Der kommunikationsgestörte Einzelgänger Oliver Heaviside legte vor über hundert Jahren ein Stimmnetz um die Welt

Bauwerke der Informationsgesellschaft von älteren Gehäusen zu unterscheiden ist leicht: Seit Queen Victorias Zeiten hat Architektur nicht mehr nur Fenster-, Tür- und Einschusslöcher aufzuweisen, sondern auch Bohrlöcher für Kabel. Dieses Lehrstück über die Wege der Macht und der Kommunikation ist älter als das Internet.

Nachrichtentechnisch sind Kabel in medias res und für die Informationsgesellschaft ebenso fundamental wie unsichtbar. Sie verschwinden in Kabelschächten, unter Fußböden, durch Funkstrecken und auf dem Meeresgrund. Alltäglich sichtbar erscheinen sie vorzugsweise als Salat, kurz in der symbolischen Form einer Mischung, die technischem Verstand zuwiderläuft. Im Ausdruck "Kabel-Salat" lässt sich eine Bruchstelle zwischen symbolischer und funktionaler Ordnung bemerken, die im Folgenden thematisch wird. Der Gedankenstrich zwischen "Kabel" und "Salat" verdeutlicht das Gemeinte: Er trennt und verbindet zugleich. Damit ist ein Paradox aller technischen Kommunikation ausgesprochen, das im Kabel zur beredten Tatsache wird.

Es geht hier nicht um Sender und Empfänger, sondern um die sprachlose Mitte zwischen beiden, in der es bestenfalls Maschinensprachen gibt. Und vielleicht bedarf es einer besonderen psychischen Disposition, um sich ein Leben lang an diesem Nicht-Ort einzurichten. Er ist denn auch verbunden mit dem Namen eines einsamen Genies: Oliver Heaviside (1850-1925).

Ein Exzentriker erfindet die Kabelmathematik

Nicht nur die Zeitgenossen haben ihn als Zumutung empfunden. Bis heute gilt seine Arbeit als ein schwer zu verdauender Brocken. Und seinen Namen kennen allenfalls noch Freunde des Musicals Cats. Denn merkwürdigerweise singen die Katzen ein Lied, in dem er vorkommt: "Up up up past the Russel Hotel / Up up up to the Heaviside layer ...". Und was Katzen recht ist, mag uns billig sein.

Die Geschichte der Kommunikationsmedien ist voll von kontaktgestörten Einzelgängern. Oliver Heaviside kann mit größtem Recht unter diese genialen Sonderlinge gezählt werden. Aus ärmlichen Verhältnissen kommend, wurde eine Kinderkrankheit offenbar nicht richtig behandelt, so dass er einen lebenslangen Hörschaden erlitt. Manche Biographen wollen hiermit seine Exzentrik erklären. Mit 16 Jahren verließ er die Schule, erlernte auf eigene Faust den Morsecode sowie Elektrizitätslehre und erhielt mit 18 Jahren eine Anstellung als Telegrafist, zunächst in Dänemark, später bei der Great Northern Telegraph Company in Newcastle-upon-Tyne. Während dieser Zeit trieb er exzessiv private Studien, die ihn schließlich völlig absorbierten. Nach nur sechsjährigem Berufsleben kündigte Heaviside 1874 seinen Job, um die nächsten Jahrzehnte in einem fensterlosen Zimmer seines Elternhauses zu verbringen. Man stellte ihm das Essen auf einem Tablett vor die verschlossene Tür, in welchem er bei einer qualmenden Öllampe saß. Im Alleingang hat der Kommunikationsgestörte dort die Grundlagen einer Kabelmathematik gelegt, ohne die in der so genannten "Kommunikationsgesellschaft" gar nichts mehr gehen würde.

Kein Medium der Welt ist bloß neutrales Mittel - dieser Grundsatz aller Medientheorie gilt auch für Kabel. Bei näherer Betrachtung erweisen sie sich keineswegs als bloß neutrale Transportmittel, durch die man Strom schicken könnte wie Wasser durch eine Röhre. Vielmehr tangiert die Materialität der Kabel jede Nachricht im empfindlichsten Sinne. Beim Durchgang des Signals treten nämlich elektromagnetische Effekte auf, die ab einer gewissen Größenordnung völlig dominant werden können. Und eben diese Größenordnung ist beim Telefon erreicht, wo das Frequenzspektrum einer menschlichen Stimme (300-3.400 Hz) ins Spiel kommt. Im schlechtesten Fall verschmiert das Signal schon nach wenigen Kabelmetern zu unkenntlichem Noise. Angesichts dieser neuen Aufgabe verschob sich das Interesse weg von den Sende- und Empfangsgeräten hin zu deren Zwischenstück: "Das Hauptproblem besteht darin, die verschiedenen Effekte der Kabel zu erklären", notierte Heaviside.

Es war Oliver Heavisides geniale Idee, eine Nachricht als Summe von Frequenzen zu behandeln. Nach zehnjähriger Debatte um hoffnungslos verschmierte Telefonsignale veröffentlichte er 1887 den entscheidenden Aufsatz: Electromagnetic Induction and its Propagation. Darin war die Frage der telefonischen Verzerrung mathematisch beantwortet. Noch heute profitiert jeder Fernsprecher von der technischen Umsetzung dieser Einsicht. Allerdings wurde diese Leistung nicht sogleich erkannt, was unter anderem an dem enormen Schwierigkeitsgrad der Formeln lag. Als notorischer Einzelgänger hatte Heaviside Notationsweisen entwickelt, welche nicht nur von mathematischen Laien als schier unlesbar empfunden wurden. Selbst ein erlauchter Kopf wie Heinrich Hertz hatte Mühe zu folgen.

Die radikale Hermetik seiner Abhandlungen ist bis heute das Hauptproblem jeder Heaviside-Biographie. Es herrscht ein Maß an Fremdheit darin, das im Kontext abendländischer Bildung nicht minder exterritorial wirkt als Indianerkulte. Nur ein Amerikaner namens Michael Idvorsky Pupin (1858-1935) scheint die Heavisidesche Einsicht früh verstanden zu haben - er meldete sie 1895 unter eigenen Namen zum Patent. Bis heute sprechen Telefontechniker von Pupin-Boxes. Heaviside selbst hat niemals einen Cent dafür bekommen. Es waren jedoch eben seine Formeln, die darin steckten. Die Mathematik des kommunikationsunfähigen Einzelgängers hat die telefonische Kommunikation erst möglich gemacht.

Queen of Telegraphy

Während Oliver Heaviside in Hinterzimmern grübelte, regierte Queen Victoria. In der Tat sind weltweite Kabelnetze ein viktorianisches Projekt. Unter Queen Victoria wurden erstmals im gesamten British Empire Seekabel verlegt. Die Dame kann daher mit Fug und Recht "Queen of Telegraphy" genannt werden. Anfang und Ende ihrer Regierungszeit stimmen auf die erstaunlichste Weise mit den Eckwerten der Kabel überein. Als sie 1837 ins Amt kam, wurde der Cooke Wheatstone Five Needle Telegraph patentiert. Und als sie 1901 verstarb, wurde soeben das letzte Teilstück in der Rundumverkabelung des Globus verlegt.

Die Schließung des Systems der Kabel war im Jahre 1902 vollendet. Zum Beweise dessen schickte Sir Sandford Fleming in Ottawa zwei identische Telegramme nach Australien. Das eine lief ostwärts über London, das andere westwärts über Vancouver. Die Antworten trafen wiederum aus den Gegenrichtungen ein, wodurch der Globus mehrfach umrundet wurde: über British Columbia, die Fijis, Sydney, Indien, Ägypten, Malta, Gibraltar, London, Porthcurno Cornwall zurück nach Kanada. Erstmals funktionierte die so genannte all-red route, die niemals britischen Boden verließ. Immerhin zählten auch die "Dominion of Canada" und Australien zum British Empire. In diesem Herrschaftsraum war es erstmals möglich, Nachrichten elektrisch rund um die Welt zu schicken.

Wohlgemerkt: Es geht bislang allein um Telegramme. Dagegen hat ein erstes Telefonat rund um den Globus erst Jahrzehnte nach Flemings Telegramm stattfinden können: am 25. April 1935. Ab 1902 jedoch kam das Telegraphennetz mit den Strukturen des British Empire überein. Weltweite Kabel haben entscheidend zu seiner Synthesis beigetragen. Queen Victoria hätte den Titel einer Empress of India wohl kaum ein Vierteljahrhundert lang tragen können, wäre Indien nicht 1870 ans Netz gegangen. Nicht zu Unrecht hat man die britischen Seekabel als Nerve-Centre of Empire bezeichnet. Das Kabel zog die Quintessenz aus dem viktorianischen Kolonialismus. Doch hat ein ohnmächtiger Sonderling erscheinen müssen, um diesen Wegen eine Stimme zu verleihen.

Katastrophen in Lichtgeschwindigkeit

1909 zog Oliver Heaviside aus seinem fensterlosen Londoner Zimmer nach Torquay aufs Land, wo er sofort zur Zielscheibe allgemeinen Hasses wurde. Den Rest des Lebens sollte er im Clinch mit einem Landvolk verbringen, dem Heavisides Lebensstil schlicht unbegreiflich war. Wie ein Zeitgenosse berichtet, war sein Wohnzimmer wundersam möbliert mit "Granitblöcken die in kahlen Zimmern herumstanden wie die Einrichtung irgendeines neolithischen Giganten. In diesen wunderlichen Räumen lief er umher, wobei er immer schmutziger wurde, und immer zerzauster - mit einer Ausnahme: Seine Fingernägel waren stets außerordentlich gepflegt und mit einem kirschrosa Glanzlack angemalt." Man ahnt das Drama des latent homosexuellen Outsiders, der sich mit Steinen, Zahlen und Geräten umgab wie der Engel auf Dürers bekanntem Stich Melencolia I. In diesen Räumen schrieb er die Einleitung zum dritten Band seiner Electromagnetic Theory. Die ersten Zeilen des Buches lesen sich wie folgt: "Wellen aus bewegten Quellen. Adagio. Andante. Allegro moderato. Die folgende Geschichte ist wahr. Es lebte einst ein kleiner Junge, zu dem sein Vater sagte: ›Benimm dich endlich mal wie andere Leute auch und schau nicht so finster drein.‹ Er hat es wieder und wieder versucht, aber einfach nicht hingekriegt. Darum hat der Vater ihn mit einem Riemen verprügelt; und anschließend wurde der Junge von den Löwen aufgefressen."

Die Szene gleicht einem Opferritual, auf das der Himmel antworten soll. In der Tat gibt es auch bei Heaviside ein himmlisches Feedback - es ereignet sich auf den letzten Seiten der Electromagnetic Theory. Dort denkt Heaviside über die Vorhersagbarkeit kosmischer Katastrophen nach und kommt zu einem negativen Ergebnis. Das Ereignis würde mit derselben Lichtgeschwindigkeit anrücken, in der auch die Nachricht käme, also kann es nicht vorhergesagt werden.

Der dritte Band der Electromagnetic Theory von 1912 ist wie ein Klappaltar gebaut: Im Zentrum steht ein spekulativer Karfreitag aus schier unlesbaren Formeln. Auf dem linken Flügel wird ein Kind geschlagen und gefressen; auf dem rechten Flügel sieht man die Zerstörung der Welt, deren Nachricht in Echtzeit kommt. Nichts anderes meint der Kurzschluss zwischen Ereignis und Information, wie er zum Ideal der Mediengesellschaft werden sollte. Der Drang, jedes Ereignis im selben Moment in eine omnipräsente Nachricht zu verwandeln, hat sein Urbild in der kosmischen Katastrophe, die ein Nachrichtentechniker ahnte. Weil er den Kosmos wie ein Kabel behandelte, nämlich als Medium der Nachrichtenübertragung, hat er eine leitfähige Schicht in der äußeren Atmosphäre voraussagen können. Man hat sie nach ihm benannt: Es ist der Heaviside-Layer, von dem die Katzen im Musical Cats ein Lied zu singen wissen.

Es handelt sich um eine gekürzte und überarbeitete Fassung des Aufsatzes "Kabel im Denkraum", den Peter Bexte im Band UPDATES. Visuelle Medienkompetenz (hrsg. von Arthur Engelbert und Manja Herlt, Verlag Königshausen Neumann 2002) veröffentlichte.

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