Schönheit und Schrecken

Jahrhundert-Poem Gerhard Falkners "Gegensprechstadt - ground zero" ist große Poesie, glücklich verwirrt

"ich habe zu wenig geschlafen / in diesem Jahrhundert!" - wer beim Eingangssatz von Gerhard Falkners Poem Gegensprechstadt - ground zero etwas Leichtes und Ungeheures zugleich erwartet, ist nur noch schwer errettbar von dieser Poesie. Und obwohl dieser Satz wellenartig das Langgedicht durchkämmt und sich dadurch mit Pathosenergie anreichert, trägt er ungeheuer leicht durch die neunzig Strophen. Denn die halten, was der Satz verheißt: Intimste Ich-Recherche mit der Besichtigung des 20. Jahrhunderts eng zu führen und dabei die poetische Spannung aufrecht zu erhalten. Wie aber geht so etwas noch, jetzt, wo doch jede Behauptung eines konsistenten "Ich-Welt-Zusammenhanges" selbst schon problematisch erscheint? Wo jüngere Ansätze zum groß ausgreifenden Gedicht (Les Murray, Inger Christensen, Paulus Böhmer, Durs Grünbein) ohne längere narrative Abschnitte kaum mehr auszukommen glauben?

Das Geheimnis, warum ausgerechnet Gerhard Falkner in einer Zeit, in der eigentlich niemand mehr darauf vorbereitet ist, an die großen Poeme der Weltliteratur eines Heine, T.S.Eliot, Pound, Mandelstam, Ginsberg anzuschließen, genau dies bewerkstelligt, lässt sich zum Glück nicht auflösen, aber umkreisen: Da überraschen etwa genau gesetzte Rhythmus- und Gestuswechsel. Die sich - schließlich handelt es sich um musikalisch dominierte Elemente - in der beigelegten CD kongenial erhören lassen, in der Wechselwirkung zwischen der Stimmführung des Autors und den raffinierten Klanginstallationen von David Mosse. Falkner prägt dafür in einem Nachwort den etwas chemischen Begriff der "polymeren Poesie. Gemeint ist damit das additive Zusammenwirken mehrerer Stilformen auf die Intensität der Ausprägung des Gesamtmerkmals". Wenn beispielsweise von der Konzentriertheit poetischer "glimpses" (T. S. Eliot) unvermittelt übergegangen wird zu trockenster Ironie des politischen Einspruchs, stehen dem Autor jene Kunstgriffe etwa der Reizüberflutung auf kleinstem Raum, des Spiels mit der Selbstreferentialität und scheinbar postmodern abgeklärtem "common sense" zur Verfügung, die den Pegel der Aufmerksamkeit und Textlust hoch halten.

so beginnen am körper die tage hieß der erste, die deutschsprachige Lyriklandschaft aufwirbelnde Band 1980, und diesem Programm in nuce ist Falkner in allen Brüchen und Weiterungen treu geblieben: Das Schöne und Sublime behaupten zu können, "basierend durchaus auf den geschätzten Resultaten ihrer Reduktion und Dekonstruktion durch Moderne und Postmoderne", wie Falkner in seinem Nachwort betont. Die "tage" aber werden nun in die Zeit, in die Geschichtlichkeit gesenkt. In den Ort, in den Schrecken, in die Lust. Wie die Verkörperlichung von Situation, Imagination und das sehr ernsthafte Spiel mit Zeitlichkeit ineinander greifen, macht Falkner gleich zu Beginn des Poems klar. In der dritten Strophe heißt es: ich kann die stillen, zitternden Bäche / des Lichts / über dem Frankfurter Bahnhofsviertel / in all den Jahren / als ich achtzehn wurde / noch aufsagen / sie rauschten / wie die Tulpen unter dem Rasenmäher / eine Schrift niederlegend / ins Gras / die man nur entziffert / mit matter Stirn / und schlaflos geröteten Augen. Man beachte wie die Verszeilen keinen Zeitpunkt, sondern einen Vorgang, den des Erinnerns abrufen. Falkner ergreift die Gelegenheit, wie vorher angekündigt, "der Zeit die Freiheit zu lassen / einmal den Ort zu spielen." Die Imagination wird vom Verb "aufsagen" an den Sprecher zurückgebunden und schließlich als Textur dem Stadtkörper eingeschrieben. In der Mitte des Poems kristallisiert Falkner schließlich dieses Verfahren, indem er in einem kursiv herausgehobenen Abschnitt "Stadt" und "Buch" metonymisch setzt und dem "Satzbau der Straße" nachgeht. Diese Schrift zu lesen bedarf es - "mit matter Stirn / und schlaflos geröteten Augen" - des Zustands der Somnambulität, in dem "die Energie des Begehrens in intensive Wirkungen" (Falkner) verwandelt werden kann.

Gegensprechstadt - ground zero ist im Proustschen Sinne ein Poem über subjektive Zeitlichkeit, und es ist ein Poem des stets schon Berlin-süchtigen Flaneurs (Berlin - Eisenherzbriefe, 1986) über Berlin. Über die Jetzt-Berlins, Rigaer Straße, Duncker, Tresor, Humboldthain, Kit-Kat-Klub, Wannsee, Hansaviertel mit ihren "114 % Gegenwart", über die Mauer-Berlins der achtziger Jahre ("bis 89 war Berlin geteilt / in spra und che"), das Mauerfallnacht-Berlin als Berlins "ground zero", das chaotisch-anarchisch-hippe Berlin der frühen neunziger, das der Jahrtausendwende: dann die Wende vor der Wende / die New Economy / das kalte Grausen / das damals / seinen Ausgang / heute seinen Fortgang / und morgen sein böses Ende nimmt."

"ground zero"? Den Begriff gibt es seit dem 6. August 1945, bezeichnend den Bodennullpunkt in Hiroshima. Dass die Ursprungsbedeutung so gut wie ausgelöscht werden konnte, ist der Definitionsmacht der Medien nach dem 11. September 2001 zu danken. Diese Auslöschungsmacht ist das Anathema des Poems. Alexander Kluge hat einmal treffend die Postmoderne als Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit definiert; für Falkner ist im übertragenen Sinne "ground zero" auch das Auge des Taifuns, in dem sich für einen Moment Schönheit und Schrecken die Waage halten, bevor die Katastrophe das Bisherige auslöscht, aber im Verglühen "gleich weit den Radius seiner Ursachen wie den seiner Folgen ausleuchtet". Und so birgt das Gedicht noch einmal den "analoge(n) Tag in einer digitalen Welt" in die Sprache der Poesie, ehe binär in 0 und 1 vergleichgültigt wird. Noch einmal - in diesem Jahrhundert der Gewalt / und der Langeweile / in dem wir versucht haben / Jim Morrison nicht mit / Rainer Maria Rilke zu verwechseln - zitiert Falkner ihm teure Kunst- und Wissenschaftsdiskurse seit der Aufklärung, von Goethe, Heine, Nietzsche bis Levi-Strauss ins Gedicht, ehe "das Grimmsche Wörterbuch als Futter / für die neokannibalistische Festplatte" eingedampft wird.

Sollte hier womöglich ein Jahrhundert-Gedicht geschrieben worden sein? Zehn Jahre, von 1995 bis 2005, hat Falkner an ihm gearbeitet. Wiewohl er sich längst eine Orientierungs- und Mentorfunktion für die nachgewachsene Dichtergeneration erarbeitet hat, ist ihm seit seinen scharfen Auseinandersetzungen mit dem Literaturbetrieb (Vom Unwert des Gedichts, 1993) die kontinuierliche Nichtbeachtung bei der Vergabe von Literaturpreisen sicher. Man fragt sich, wie lange sich die Jurys dieses Landes diese Ignoranz gegenüber einem so turmhoch das Mittelmaß überragenden Werk wohl noch leisten können.

Gerhard Falkner: Gegensprechstadt - ground zero. Gedicht CD: Music by David Moss, kookbooks, Idstein 2005, 100 S., 25,80 EUR


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