Revolution der Inhalte

Den 1. Mai in Berlin-Kreuzberg neu denken Ein erfolgreiches Scheitern

Die Fixierung auf die Gewaltfrage zum 1. Mai in Berlin-Kreuzberg ist inzwischen zur Gewohnheit geworden. Der übermächtigen Angst vor einem anderen 1. Mai, die besonders auf Seiten der Polizei und der linksradikalen und autonomen Szene zu spüren ist, versuchte das sogenannte "Denk-Mai-Neu-Personenbündnis" entgegenzutreten. Auf vier Ziele einigten sich die Vertreter verschiedenster Organisationen im Dezember 2001: Politisierung des 1. Mai und Selbstverständigung über brisante gesellschaftspolitische Themen (Krieg, Armut, Arbeitslosigkeit, Stadtpolitik); Mobilisierung von 40.000 bis 60.000 Berlinerinnen und Berlinern für politische und kulturelle Veranstaltungen; "freundliche Besetzung" des Kreuzberger "Kampfareals", um politisch-kulturelle Räume zu öffnen und um Menschen zusammenzuführen ("reclaim the streets"); polizeifreies Berlin-Kreuzberg und Minimierung von Gewalt.

Dieses Projekt bedeutete in jeder Hinsicht eine Herausforderung. Der Polizei ein "polizeifreies Kreuzberg" zuzumuten, schien ebenso unrealistisch und wenig erfolgversprechend wie eine offene Politisierung brisantester gesellschaftlicher Themen. Auch war fraglich, ob sich die oft gewaltgierigen Medien auf die friedlichen Konzepte einlassen oder lieber darauf hoffen, "genüsslich" die brennenden Autos als Aufmacher von Boulevardzeitungen präsentieren zu können. Ebenso stellte das Projekt eine Provokation für den rot-roten Senat dar. Das gilt sowohl für den SPD-Senator Körting, der die Linie des ehemaligen CDU-Innensenators Werthebach auf keinen Fall fortsetzen wollte, einem neuen Konzept jedoch unsicher gegenüber stand, als auch für die PDS, die zwar von einer anderen politischen Kultur redete, aber zivilgesellschaftlichen Lösungen misstraute. Schließlich war ungewiss, wie die Öffentlichkeit auf das Projekt reagieren würde. Angesichts der Globalisierungsprozesse und der damit einhergehenden Marginalisierung von Politik, bestand jedoch die Hoffnung, dass sich trotz der Schwierigkeiten der 1. Mai zu einem modellhaften Protesttyp entwickeln könnte, der gerade das Politische einzuklagen versucht.

Inzwischen ist das Projekt für einen politischen und polizeifreien 1. Mai gewissermaßen "erfolgreich" gescheitert. Der Terminus des erfolgreichen Scheiterns verweist einerseits darauf, dass die angestrebten Ziele zwar nicht erreicht werden konnten, andererseits aber festgefahrene Denk- und Handlungsmuster in Bewegung geraten sind.

Die Verhandlungen mit dem zuständigen Senator verliefen zunächst vielversprechend. Er bewegte sich überraschend auf das unterbreitete Konzept zu und signalisierte mehrfach öffentlich, nicht auf die politische Aufheizpolitik im Vorfeld des 1. Mai zu setzen. Körting und sein Staatssekretär Diwell konnten die Polizei zu einer ernsthaften Prüfung des alternativen 1. Mai-Konzepts bewegen, das aus Polizeisicht zunächst als sehr problematisch eingestuft wurde. Während der Verhandlungen wurde die polizeifreie Zone zumindest teilweise durchgesetzt. Danach sollte sich die Präsenz der Polizei nur auf Notfallsituationen beschränken; die betreffenden Polizeibusse wären mit zwei Beamten in normaler Dienstkleidung besetzt gewesen. Kurz: Komplette Abwesenheit der Polizei außer in vielleicht 12 bis 15 Notfällen. Trotz dieser überraschenden Einigung konnte oder wollte sich Senator Körting nicht auf die kleine Revolution einlassen. Er überließ in einem Offenen Brief die Deutungs- und Einsatzmacht allein der Polizei. Das konnte das Personenbündnis nicht akzeptieren und erklärte das Konzept an diesem Punkt für gescheitert.

Aber es gab auch andere Gründe dafür, warum man das Projekt als "erfolgreich" gescheitert bezeichnen kann. Erfreulich ist zunächst, dass Öffentlichkeit und Medien das Anliegen des Personenbündnisses ausführlich, seriös und sehr ernsthaft diskutierten. Selbst die Springer-Presse hielt sich auffallend zurück. Andererseits denunzierten verschiedene autonome, kommunistische und linksradikale Gruppierungen das Projekt als plumpe Befriedungsstrategie. Hier rächte sich, dass die Vordiskussionen zunächst nur schleppend vorankamen. Höhepunkt der Auseinandersetzungen war seinerzeit eine Veranstaltung in der Emmaus-Kirche, auf der die Gegner des Projekts eine inhaltliche Auseinandersetzung nicht zuließen - nachdem sie wenige Tage vorher meinen PKW abgefackelt hatten.

Die Botschaft war eindeutig: Die Kritiker wollten keinen neuen 1. Mai. Der Streit um die Demonstrationsrouten zeigte die heillose Zerstrittenheit und Politikunfähigkeit. Dabei traten ebenso die eigenen Schwächen des Personenbündnisses zu Tage. Es fehlte eine innere Überzeugungsdynamik, die notwendig gewesen wäre, um diese Kontroversen erfolgreich zu bewältigen.

Zur Trauer besteht dennoch kein Grund. Noch nie wurde vor dem 1. Mai eine politische Debatte derartig vehement, konzeptbezogen und inhaltlich geführt. Noch nie stand das für die Linke wichtige Ziel einer polizeifreien Zone so knapp vor der Durchsetzung. Und noch nie zuvor wurden öffentlich und ernsthaft Alternativen zum herkömmlichen 1. Mai diskutiert. Was jetzt ansteht, ist eine weitere Entmystifizierung des 1. Mai. Krieg, Arbeitslosigkeit, Armut, Bankenskandal und Sparpolitik wären Themen, die für eine Repolitisierung geeignet sind. Insofern könnte eine friedliche Massenbeteiligung am 1. Mai ein Chance für neue Inhalte darstellen.

Peter Grottian ist Hochschullehrer an der Freien Universität Berlin und Mitinitiator des Personenbündnisses für einen politischen und polizeifreien 1. Mai.

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