Scheitern als Fixpunkt

Juan Carlos Onetti Wie kein anderer erkundete er die menschliche Verzweiflung: Juan Carlos Onetti. Zum 100. Geburtstag des uruguayischen Schrifstellers sind zwei neue Bücher erschienen

„Je mehr ich an das Schicksal des Menschen denke, desto mehr neige ich zu Mitleid und Ironie“, bemerkte der am 30. Mai 1994 im spanischen Exil verstorbene uruguayische Schriftsteller Juan Carlos Onetti einmal in einem seiner seltenen Interviews. Längst gilt der scheue Einzelgänger, der die letzten zehn Lebensjahre mehr oder weniger im Bett seiner Madrider Wohnung verbrachte und sich bis zuletzt hinter einem düsteren Humor verschanzte, als Wegbereiter des modernen lateinamerikanischen Romans. Doch dort, wo seine nachtdunklen Werke Mitleid und Ironie atmen, sprechen sie immer auch von Scheitern und Zerfall.

Einen „Kafka vom Rio de la Plata“ hat man den am 1. Juli 1909 als Sohn eines uruguayischen Zollbeamten in Montevideo Geborenen genannt. Er kam wie ein dunkles, stetig anschwellendes Grollen über die Literatur Lateinamerikas – und erschütterte sie in ihre Grundfesten.

Die Verlorenheit des Menschen

1939 war sein erster, an Sartres Der Ekel erinnernder. Roman Der Schacht in einer Auflage von 500 Exemplaren erschienen – ein gerade mal 99 Seiten umfassender, auf grauem Packpapier gedruckter Band. Mit der Wucht eines metaphysischen Donners beschwor Onetti darin die Leere und die Verlorenheit des Menschen in unruhiger Zeit.
Der Autor, der sich seinerzeit – dreißigjährig nach Buenos Aires übergesiedelt – als Redakteur der Zeitschrift Marcha verdingte, hatte auf Anhieb einen unverwechselbaren Ton angestimmt: ein sprödes, lakonisches Konstatieren, das angesichts des Mangels an lebbarer Wirklichkeit einen permanenten horror vacui beschwört; eine existentielle Leere im Leben auf Erden, die zwangsläufig Untergang, Isolation, Altern und Tod einschließt und immer neu halluzinatorisch überspielt werden muss, um allein in der Fiktion als halbwegs erträglich empfunden zu werden.

Dabei agiert Onetti von Beginn an auf einer Höhe mit seinen Geschöpfen: hineinversetzt in die Ödnis seiner eigenen Einsamkeit und Resignation bewegen sie sich wie Doppelgänger. Ihr Schöpfer lässt sie stellvertretend all das durchexerzieren und erleiden, was er selbst als einzigen Fixpunkt menschlichen Seins begreift: das mal mehr, mal weniger spektakulär inszenierte Scheitern. Seine wie Steine ins Meer des Lebens geworfenen und zum Absinken verurteilten Stellvertreterfiguren gleichen Entwurzelten im Dickicht der Städte – Eladio Linacera, der Protagonist von Der Schacht ebenso wie die anderen, früh um den Verstand gebrachten Untergeher seiner nachfolgenden, als Romane getarnten Bankrotterklärungen: der Drehbuchschreiber Brausen, der sich in dem Meisterwerk Das kurze Leben von 1950 in seinen Pseudonymen verliert; Larsen, der als „Leichensammler“ des gleichnamigen Romans von 1988 in der "Stadt am Fluss strandet“, wo er mit drei abgetakelten Prostituierten erfolglos ein Bordell aufzumachen versucht; und nicht zuletzt der heruntergekommene Journalist und Spieler Lamas, der uns in dem Kurzroman Magda (1987) seine Lebensbeichte anvertraut.

Dem Tod ins Auge

Nun ist Onettis Roman Für diese Nacht von 1943 erstmals auf Deutsch erschienen. Er markiert die so genannte Frühphase im Werk des Uruguayers, der sein Heimatland 1974, zur Zeit der Militärdiktatur verliess und sich im Madrider Exil als Kellner, Türsteher und Verkäufer durchschlug. Darin erzählt Onetti in seiner typischen Manier von Ossorio, dem Anführer einer Partei (zweifellos der kommunistischen), der während der letzten Tage des spanischen Bürgerkriegs dem Tod ins Auge schaut: Die Faschisten haben bereits die Stadt Valencia bereits umzingelt.

Er ist im Besitz von falschen Papieren und einer Fahrkarte für das Schiff „Bouvier“, doch er stirbt, bevor er an Bord gehen kann, weil er Victoria, die halbwüchsige Tochter eines Kameraden, zu beschützen sucht, den er zuvor bei der Polizei denunziert und damit zum Tode verurteilt hat.

Für diese Nacht ist kein großer Roman im Sinne all der anderen Meisterwerke, die diesem passionierten Schwarzmaler aus der Feder geflossen sind; doch der 230 Seiten umfassende Text verdeutlicht anschaulich, wie ein Autor im Begriff ist, seine eigene unverwechselbare Stimme auszubilden. Onetti, dem hierzulande nicht das gleiche Maß an Beachtung geschenkt wurde wie etwa Julio Cortazar, Mario Vargas Llosa, Carlos Fuentes oder Gabriel Garcia Marquez, erweist sich aber auch in diesem Frühwerk als störrischer Beschwörer der Unüberwindbarkeit des Lebens.

In einem Klima von Schlaflosigkeit, Alkohol und Desillusion dechiffriert Onetti – ähnlich wie in seinen berühmten Erzählband So traurig wie sie von 1976 – die Sinnlosigkeit des irdischen Seins. Und ebenso wie in seinen Geschichten begegnen wir auch hier vom Schicksal Gebeutelten und um ihre Zukunft Betrogenen, die ihre Existenzen wie Rollen in einer endlosen Schmierenkomödie abspulen. Der Einzelne erscheint wie herausgeschnitten aus seiner Zeit, degradiert zum Beobachter seines eigenen Scheiterns.

Normalität und Wahnsinn

Onettis Figuren – und das zeigt eindrucksvoll der große, soeben ebenfalls auf deutsch erschienene Essay Die Welt des Juan Carlos Onetti des Peruaner Mario Vargas Llosa – sind Repräsentanten einer verloren gegebenen Zivilisation, Bewohner einer unausgesprochen zur Todeszone erklärten Region, die sich im Zwielicht von deren Rändern tummeln:
in Bars und Bordellen, Absteigen und Kaschemmen – lebensmüde und zu Tode gelangweilt. Kunstvoll arrangiert Onetti seine Geschichten als Metamorphosen von Geschichten – verdichtet zu düsteren Possen, an deren Enden Normalität und Wahnsinn gegeneinander aufgehoben sind.

Mit seinen rätselhaft-sperrigen, überwiegend in dem fiktiven „Santa Maria“ angesiedelten Anti-Romanen hat Juan Carlos Onetti gewaltige Grossaufnahmen des von Geburt an mit dem Rücken zur Wand stehenden Menschen geschaffen; Werke, die ihre Wucht und ihre Faszination aus der Unerschrockenheit beziehen, mit der ihr Schöpfer die darin geäußerten Wahrheiten für sich selbst geltend machte.Faulkners Einsicht folgend, wonach ein Text auf der Stelle kreisen soll, um das Essentielle der Existenz zu erfassen, „tanzen“ seine Texte in konzentrischen Kreisbewegungen „auf der Stelle“.

Und so liegt ihre irritierende Kraft – dies zeigen Llosas erhellende Interpretationen – in der ungefilterten Direktheit, mit der Onetti seine Geschöpfe bis zuletzt ihrem Schicksal ins Auge blicken lässt. Und auch, wenn sie sich allesamt in eine Art Wahnsinn retten, um „wirklich leben zu können“, so bleiben sie doch Träumer, deren schmerzerfülltes oder bereits fühlloses Sehnen mit Pessoas Wendung „Wann erwache ich aus dem wachen“ überschrieben werden könnte; auch, wenn das Warten darauf unter Umständen ewig dauern sollte.

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