Vier Zähne im Mülleimer

Vorstadt Ein Raumpfleger, der vom Dichterdasein träumt: Ha Jins Einwandererroman "Ein freies Leben" erzählt von seinem Doppelgänger und vom Scheitern in der Fremde

Fernando Pessoa, der 1935 in Lissabon verstorbene portugiesische Dichter, konstatierte in der Aspekte betitelten Betrachtung zu seiner eigenen, faszinierend rätselhaften Poetologie: „Als privates Ich kennt der Autor in sich selbst überhaupt keine Persönlichkeit. Wenn er einmal eine Persönlichkeit in sich aufsteigen fühlt, bemerkt er bald, dass es sich um ein von ihm selber verschiedenes, wiewohl ähnliches Wesen handelt; um einen Sohn im Geiste sozusagen, mit ererbten Eigenschaften, aber allen Unterschieden eines anderen Menschen.“

Eine Charakteristik, die in gewisser Weise auch für Nan Wu, den fiktiven Doppelgänger des chinesischen Schriftstellers Ha Jin in dessen großem, soeben auch auf Deutsch erschienenem Roman Ein freies Leben gelten kann; einen Mann, der seinem Schöpfer bis in kleinste biografische Details hinein zu gleichen scheint, „mit ererbten Eigenschaften“ sozusagen, gleichwohl aber „alle Unterschiede eines anderen Menschen“ aufweist.

Träume im Müllcontainer

Und so verkörpert Ha Jins literarische Spiegelfigur Nan Wu jenes andere Ich seines Schöpfers, das – wäre sein Leben anders verlaufen – auch möglich gewesen wäre: einen im Startblock des Lebens hängengebliebenen Zauderer, dessen Ambition, in der Fremde als Dichter zu reüssieren, sich nicht erfüllt.

So werden die vier Weisheitszähne, die man Nan Wu gegen Ende des Romans zieht, zu Symbolen seines Scheiterns: schmerzhafte Opferungen eines Gestrauchelten, der es an jenem Biss vermissen ließ, der nötig ist, um aus Visionen Wirklichkeit werden zu lassen. Dementsprechend befördert er die vier in Gaze eingeschlagenen Kauwerkzeuge am Ende verdrossen dorthin, wo er – metaphorisch gesprochen – seine einstigen Träume ohnehin wähnt: in den Müllcontainer vor seinem Restaurant.

Hatte Ha Jin in seinen früheren, allesamt im China nach der Revolution spielenden Romanen und Erzählungen gezeigt, wie die Vorstellungen und Wünsche des Einzelnen immer wieder an der Übermacht des politischen Diktats zerschellen, so präsentiert er uns in seinem neuen und erstmals außerhalb Chinas spielenden Buch einen Menschen, der unfähig ist, die sich ihm bietenden Möglichkeiten der Freiheit zu nutzen. Denn wo sein schriftstellerisch höchst erfolgreicher, heute als Professor für Englische Literatur in Boston lehrender Schöpfer inzwischen auf mehr als zwanzig Jahre erfolgreich gestaltetes amerikanisches Exil zurückblicken kann, dort bleibt Nan Wu auch nach Jahren in den USA und zahlreichen Versuchen, dort anzukommen, ein Fremder.

Peking-Ente und Gedichte

Beeindruckend lakonisch schildert Ha Jin in seinem Roman Nan Wus diverse Versuche, sich zum Dichter zu häuten. Doch wann immer er den entscheidenden Schritt ins Ungewisse einer dichterischen Existenz wagen müsste, schreckt er zurück: zu mehr als in diese Richtung zielenden Fantasien bringt er es nicht. Und so liegen zwischen Nan Wus Bemühungen zu Beginn der Geschichte, sich zunächst als Raumpfleger und später als Nachtwächter Freiräume für seine wahre Leidenschaft, das Verfassen von Gedichten, zu schaffen, und seinem späteren Alltag im „Gold Wok“, wo er allabendlich Peking-Ente und „Sieben Köstlichkeiten“ für seine amerikanischen Gäste zubereitet, 12 Jahre und knapp 500 Seiten geschilderter Alltag seines Protagonisten; Sequenzen und Episoden, die Ha Jin, der Autor von fünf weltweit hochgelobten Romanen, einmal mehr zu einer eindrucksvollen Demonstration seiner Beschreibungskunst nutzt.

Denn selbst winzigste Anekdoten aus dem Einerlei seines sich zwar aufrecht um das Wohl seiner Kleinfamilie sorgenden Antihelden geraten ihm zur leuchtenden literarischen Miniatur; kurze, schlaglichtartige Beschreibungen, staunenswert schmucklos dargeboten. So folgen wir dem selbstquälerischen, zum Restaurantbesitzer aufgestiegenen Nan Wu durch die Jahre. Er teilt das Schicksal vieler Tausender Chinesen, die in den 80er und 90er Jahren in die USA emigrierten – zählt am Ende aber nicht zu denen, die im Land der Freien das erhoffte freie Leben finden.

1989, kurz nach den Ereignissen auf dem Platz des Himmlischen Friedens aus seiner Heimat geflohen, war Nan Wu erwartungsvoll in die USA eingereist, um sich während eines begrenzten Studienaufenthalts neu zu orientieren. Doch was als Stippvisite geplant war, wird zur dauerhaften Lösung – geprägt vom Warten auf die Familie, auf ein besseres Leben. Und wo sich in seinem 1999 mit dem National Book Award ausgezeichneten Roman Warten das Warten als Kritik an der mitunter menschenverachtenden Trägheit des chinesischen Systems lesen ließ, dort kann auch das kapitalistische amerikanische System, das im neuen Roman die Hintergrundkulisse bildet, keine Abhilfe schaffen: auch hier lässt das Warten die Wünsche schließlich welk werden.

Unerfüllte Dichterexistenz

Zwar lässt Nan Wu zunächst seine Frau Pingping nachkommen, was die Hoffnung auf einen gemeinsame Neuanfang nährt; doch als ihnen endlich gewährt wird, ihren sechsjährigen Sohn Taotao in die USA nachfolgen zu lassen, tritt Nan Wu bereits auf der Stelle – als vermeintlicher Künstler wie als Mensch: kaum ein Gedicht will ihm noch gelingen. Und die Ehe mit Pingping folgt scheinbar unabänderlich den Gesetzen der Freundschaft und nicht denen der Liebe. Denn Nan Wu kann Beina, die wahre Liebe seines Lebens, einfach nicht vergessen.

So trägt er schwer an der Verantwortung, das Auskommen seiner Familie zu sichern. Bis er sich eingestehen muss, dass sich der Tausch des alten chinesischen Lebens gegen das neue amerikanische in einer Vorstadt von Atlanta nicht ausgezahlt hat: Der Traum von der strahlenden Dichterexistenz bleibt unerfüllt – und eine Rückkehr nach China ist nicht mehr möglich.

Aus eben diesem Spannungsfeld ergibt sich ein für das Buch interessanter, alles bestimmender Magnetismus, der Nan Wus Verhältnis zu seiner Frau ebenso tangiert wie das zu seinem Sohn. Gehalten im melancholischen Mollton und geschrieben in einer Sprache, deren Lakonie an Raymond Carver erinnert, erzählt Ein freies Leben vom ängstlichen Scheitern in der Fremde und von der Unfähigkeit des Einzelnen zu Einsicht und Mut. Dass am Ende aus der Kameradschaft mit seiner Frau Pingping dann doch noch so etwas wie Liebe wird, das ist die versöhnliche Pointe dieses ebenso großartigen wie ernüchternden Einwandererromans.

„Sicher ist, dass der Autor dieser Zeilen durch die Maske einer angenommenen Person oder Persönlichkeit empfunden hat, die besser als er selbst diese Gefühle empfinden konnte“, notierte Fernando Pessoa in seinem – zu Lebzeiten noch unveröffentlichten – Notat Aspekte; der Chinese Ha Jin dürfte insbesondere mit Blick auf seinen vorliegenden Roman besser als manch anderer verstehen, was der große Portugiese dereinst gemeint haben mag.

Ein freies Leben.Ha Jin. Roman. Aus dem Amerikanischen von Sonja Hauser und Susanne Hornfeck. Ullstein, Berlin 2009. 638 S., 24,90

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