Wunden und Lücken

Wendepunkt In seinen Geschichten aus dem Band "Weite Welt" geht es dem australischen Erzähler Tim Winton um den einen, entscheidenden Moment

Heißer Sand, so weit das Auge reicht. Am Horizont windschiefe Aborigines-Wellblechhütten und eine unbarmherzige Sonne, die alles zu verbrennen scheint. Dazwischen Menschen, die sich vor ihren mörderischen Strahlen verkriechen. Soweit das äußere Setting, in dem sich die Geschichten des Australiers Tim Winton entfalten. Sie tun es langsam und hypnotisch, so, als habe ihr Schöpfer während des Schreibens jedes Wort einzeln abgewogen über seine irgendwo in der Hitze Australiens stehende Schreibmaschine gebeugt.

Der 1960 in der Nähe von Perth geborene Schriftsteller ist ein passionierter Regionalist mit der ausgeprägten Vorliebe für wiederkehrende Schauplätze - und ein großer Heimlichtuer dazu. Denn auch in seinen neuen, in dem einstigen Walfangmekka Angelus spielenden und unter dem Titel Weite Welt erschienenen Geschichten enthüllt er seine kleineren und größeren Geheimnisse nur schrittweise, scheinbar geradezu wollüstig verzögert. Bedächtig, als schälte jemand eine Zwiebel, legt Winton immer neue Schichten seiner Stories frei. Bis er uns den Kern des Ganzen präsentiert - und wir seinen Erleuchtungen und Erkenntnissen staunend, erleichtert und nicht selten geradezu verwundert gegenüberstehen.

Hierzulande bekannt wurde der in seiner Heimat viel gepriesene, auflagenstarke Australier mit Romanen wie Das Haus an der Cloudstreet, Getrieben oder Der Singende Baum; Bücher, die Menschen präsentierten, die an Wendepunkten ihres Lebens angelangt sind. Dabei erwies sich Winton als ein Erzähler mit einem Faible für Dreiecksgeschichten.

In dem bereits 1996 auf deutsch erschienenem Roman Getrieben beispielsweise schildert Winton die Geschichte des jungen Australiers Scully, der in Irland ein neues Zuhause gefunden zu haben glaubt, und in Erwartung seiner nachkommenden Frau Jennifer und ihres gemeinsamen siebenjährigen Sohnes Billy unversehens in die größte Krise seines Lebens gerät. Und auch der Folgeroman Der Singende Baum von 2001 lieferte bisweilen beklemmende Einblicke in das in Unordnung geratene Leben der ehemaligen, in dem fiktiven Fischernest White Point an der australischen Westküste gestrandeten Krankenschwester Georgie Jutland.

Liiert mit dem verwitweten Fischer Jim Buckridge, verbringt sie ihre einsamen Nächte in Chatrooms und mit zu viel Wodka. Bis sie auf den Streuner Luther Fox trifft, sich in den Außenseiter verliebt - und für ihn ihre scheinbar gesicherte Existenz aufs Spiel setzt. Doch nun - elf Jahre später - Weite Welt, eine ziegelsteindicke Sammlung australischer Geschichten, in denen sich jäh oder bereits viel zu lange klaffende Wunden und Lücken mehr oder weniger glücklich, und manchmal auf geradezu wundersame Weise schließen. Offene Rechnungen werden da endlich beglichen, gestern noch unüberwindlich scheinende innere oder äußere Distanzen oder Hürden werden plötzlich überwunden und in kaum für möglich gehaltene zwischenmenschliche Nähe umgekehrt.

Wintons Kunst zeigt sich darin, genau jenen Augenblick haarfein zu erfassen, in dem seine Personen auf einmal den Atem anzuhalten und sich zu besinnen scheinen; diesen Moment, in dem sie alles so sehen, als hätten sie es nie zuvor wahrgenommen: den vor Jahren vor der lähmenden Ordnung einer bürgerlichen Existenz getürmten Säufervater etwa, der sich in der vielleicht besten Episode des Bandes, dem Stück Der Auftrag, plötzlich und gegen alle Erwartungen des Protagonisten als geläutertes und überraschend einsichtiges Wesen erweist.

"Am Tag nach ihrer Diagnose schickte meine Mutter mich auf die Suche nach meinem Vater." Derart lakonisch hebt diese Geschichte an, um knapp zwanzig Seiten später wie folgt zu schließen: "Als ich aufwachte, sass mein Vater am Herd, im Schein der Lampe, frisch rasiert und fertig angezogen. Es war noch sehr früh am Morgen. Seine Schlafmatte war zusammengerollt, und auf den Knien hatte er seine verbeulte Geldkassette, die er hielt wie ein Mann, dem etwas anvertraut wurde." Dazwischen findet sich - geschildert in knappen, unprätentiösen Wendungen - die anrührende Begegnung zweier Menschen, die beide für sich begriffen haben, dass es für sie nur dann ein Morgen geben kann, wenn sie bereit sind, das Gestern zu vergessen.

Und wenn der Chronist der Geschichte Auf den Knien, der Sohn einer Putzfrau, am Ende erleichtert bekennt, "ich konnte wieder durchatmen", so ist dies ebenfalls das Resultat eines zeitweise zähen Ringens zwischen Sohn und Mutter. Auch hier mündet der Disput, den beide miteinander wegen eines falschen Verdachts haben, der auf der Mutter liegt, zuletzt in ein stilles Einvernehmen, in das Gefühl, von dem es einmal heißt: "Kleiner, wir grinsen und ertragen es."

Die siebzehn Geschichten dieses Bandes knüpfen nicht nur scheinbar nahtlos an die genauen und plastischen Menschenporträts Wintons früherer Romane an, sondern belegen auch dessen ungewöhnliche Einsicht in die Schönheit und Tragik unserer Existenz. So lassen sich Tim Wintons australische Stories unterm Strich als Protokolle kleinerer oder größerer Verwandlungen lesen; als beispielhafte Metamorphosen, in denen mithin die Summen ganzer Leben gezogen werden: Siebzehn erzählerische Komprimate, die Stoff genug für ausgedehntere Erzählgebilde böten und doch, fern aller epischen Breite, zeigen, wie es gelingen kann, auf engstem Raum ein Maximum an Wirkung zu erzeugen.

Tim Winton: Weite Welt. Australische Geschichten. Aus dem Australischen von Klaus Berr. Luchterhand, München 2007. 350 S., 19,95 EUR


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