Da ist jemand, dem man die Schuld geben kann

Kommentar Das Beispiel des René Korth zeigt: Do it yourself, vermarkte dich, sei das Kapital. Oder studiere BWL.

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Herr Korth ist nur ein Beispiel des typischen Universitätsabsolventen, der in die Arbeitslosigkeit rutscht. Ihm war von vorne herein bewusst, dass sein Studium der Politikwissenschaften ihn nicht reich machen würde. Doch es hat ihn direkt in die Armut, an den Rand der Gesellschaft gedrängt. Schuld sind nicht die anderen, nicht die FDP, schuld ist er selbst – so suggeriert es ihm die Gesellschaft.

Die Ich-AG ist ein perfides, ja geradezu perfektes System, um die Ausbeutung des Menschen zu optimieren. So beschreibt es der deutsche Philosoph Byung-Chul Han in seinem aktuellen Essay „Psycholopolitik: Neoliberalismus und die neuen Machttechniken“. Herr Korth ist nur ein Beispiel in einer schier endlos erscheinenden Menschenmasse, die sich diesem System freiwillig hergibt. Ausgebeutet wird nicht mal mehr die Arbeitskraft an sich, sondern die Psyche, sein eigenes Ich. Wenn ich es nicht zu etwas bringe, bin ich schuld, nicht die anderen. Dabei hat Herr Korth es schon selber beschrieben. Es wird nie leicht mit seinem Abschluss im Bereich der Politikwissenschaften. Denn die Gesellschaft gibt vor, dass jeder einzelne Kapital abwerfen muss. Tut er das nicht, ist er ein Fehler im System und wird bestenfalls geduldet, mehr aber auch nicht. Dies ist das Dilemma der Sozial- und Geisteswissenschaften.

Und es trifft nicht nur Herrn Korth. Es trifft Pädagogen, Philosophen, Künstler, Musiker, Erzieher. Die Gesellschaft lebt den Neoliberalismus und unterwirft sich somit dem Kapital. Geistiges Gedankengut, neue Ansätze und Ideen müssen vermarktet werden, müssen in Geld umgewandelt werden. Sonst erscheinen sie wertlos. Kreativität und wahre Freiheit, selbst schon bei der Studienwahl, sind so ein Ding der Unmöglichkeit.

Herr Korth hätte sich laut der neoliberalen Grundsätze schon frühzeitig, also während des Studiums, durch Engagement, Nebenjobs oder unterbezahlte Praktika einen soliden Grundstein für seinen Werdegang legen müssen. Doch die beste Idee und der kreativste Gedanke machen einen nicht reich. Im Gegenteil. Sie machen einen arm. Sie kosten Kraft und Energie, zehren und saugen einen aus. Bis eine leere Hülle zurück bleibt. Durch diese unternehmerische Selbstausbeutung soll das entstehen, nachdem wir uns so sehr sehnen: Freiheit.

Herr Korth beschreibt die Freiheit durch seine Freunde, von denen er sich nach und nach abkapselt. Es ist verständlich, dass Misserfolg und Erfolg nicht zueinander passen. Es ist aber auch ein Beispiel unserer Wertegemeinschaft, dass wir, solange der Erfolg uns anführt, mehr Erfolg, mehr Leistung, mehr Geld und somit mehr Freiheit erreichen wollen. Freiheit, so denken wir, ist das Kapital, was gleichzeitig unsere eigene Ausbeute ist. Der Neoliberalismus hat somit den Kapitalismus abgelöst und aus dem Arbeiter einen Unternehmer geformt. Somit ist jeder heute ein selbstausbeutender Arbeiter seines eigenen Unternehmens. Schuldzuweisungen laufen immer auf einen selbst hinaus und aus dem Klassenkampf wird ein innerer Kampf. Die Klasse wurde abgeschafft und durch den Menschen als Individuum ersetzt. Es ist das perfekte System, um im Namen der Freiheit eine Ausbeute zu schaffen, die keiner bemerkt und niemand anzweifelt. Ich selber bin das Produktionsmittel und wer versagt, der hat verloren.

EDV-Lehrgänge und andere stupide Veranstaltungen sollen Herrn Korth und vielen weiteren Menschen wieder den Weg in die Gesellschaft zeigen. Sie sollen Anreize schaffen, immer weiter tätig zu bleiben, nie zu rasten und sich nie in Ruhe und mit vollem Bewusstsein einen Überblick über sein eigenes Wohlbefinden zu schaffen. Doch wer das tatsächlich machen will, der braucht Zeit und Raum. Zeit und Raum ist nicht Kapital, ist nichts wert. Und Kurzlebigkeit, Flexibilität sowie stetige Optimierung seines Ichs stehen dem entgegen, in Form des Jobcenters, der Gesellschaft und des Systems in seiner Ganzheit.

Die Schuld trifft somit nicht allein René Korth, sondern alle, einschließlich Herrn Korth. Es gibt kein politisches Wir im System der Selbstausbeutung. Die soziale Revolution wird im Keime erstickt, denn in einer klassenlosen Gesellschaft in Form von Ich-AGs, kann man sich nur selbst die Schuld zuweisen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Jelinek

Europäer 🇪🇺 & Anhänger der Menschlichkeit. @Peter_Jelinek

Peter Jelinek

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