»Die Montage bearbeitet das Material des Films, wie der Tod das Leben bearbeitet«

BRÜCKE ZUR VERGANGENHEIT Vor 25 Jahren starb Pier Paolo Pasolini, Dichter und Regisseur

In der Nacht vom 1. zum 2. November 1975 wurde Pasolini am Strand von Ostia ermordet, in einer Art Niemandsland von Sand und Schlamm, zwischen Baracken, einem Sportplatz und einem von Michelangelo entworfenen Kastell. In einem Gedicht (1962/63) hatte er diesen Ort und diesen Tod beschrieben und hinzugefügt:

Wie ein Partisan,

der vor dem Mai 45 gefallen,

beginne ich mich ganz langsam zu zersetzen,

im herzzerreißenden Licht dieses Meeres,

Dichter und Bürger, vergessen.

Schon zu Lebzeiten sah sich der erfolgreichste Schriftsteller und Filmemacher Italiens ermordet und vergessen. Pasolini hat immer quer zur eigenen Zeitgeschichte gelebt. Die daraus entstandenen Phasenverschiebungen und Verwerfungen sind bei diesem Künstler für Leben und Werk konstitutiv. Die heutige Nachwelt, die die Brücken zur Vergangenheit unterminiert hat, hat es nicht leicht, mit Pasolini weiterzuleben. Denn allem, was an diesem außerordentlichen Menschen und Werk interessant war, scheint der Boden entzogen zu sein. Seine tiefe Religiosität fände heute nicht einmal mehr Katakomben für ihr Wirken; ein häretischer Kommunismus kann nicht mehr greifen, wenn niemand mehr weiß, was das wirklich ist, »Kommunismus«; seine Konsum- und Medienkritik, vorgetragen in Zeitungsartikeln und gesammelt im Freibeuter (Wagenbach), dem Kultbuch der siebziger Jahre, gilt als Strandgut; und was soll die »Kraft der Vergangenheit«, wenn eine galoppierende Zukunft sich als vollendete Tatsache ausgeben kann! Deren Anlauf hatte Pasolini in den Zeiten des Wirtschaftswunders gesehen und dazu eine ekstatisch verrückte Gegenposition entworfen: Die Massen der Dritten Welt brechen aus ihren Reservaten auf und landen in Europa. Sie werden

Rom zerstören

und auf den Trümmern

den Keim legen

der Alten Geschichte.

Mit dem Papst und allen Sakramenten

ziehen sie dann wie Zigeuner

hinauf nach Westen und Norden

mit den roten Fahnen

Trotzkis im Wind ...

Nichts an dieser Prophezeiung (so der Titel des Gedichts) hat mit unserer Realität noch zu tun. Der Papst macht Staatsbesuche und badet getrost in der Menge, am Rot der Fahnen ist jede Bedeutung verblichen, die »Invasion« aus der Dritten Welt steht unter der Kontrolle der Innenminister der europäischen Union. Der Skandal dessen, der das offizielle Geschehen für unwirklich erklärt und die eigenen Bilder für wirklichkeitsmächtig, ist kaum mehr nachzufühlen. Und doch lässt sich Pasolinis Werk nur begreifen als Skandalon, als Stein des Anstoßes, der die Karrenschieber der Geschichte aus dem Tritt bringt.

In seinem großen, autobiographischen Gedicht Wer ich bin (Wagenbach) zählt Pasolini die Konstellationen auf, die ihn anstößig werden ließen: der erste Gedichtband des Zwanzigjährigen, 1942, dem Vater gewidmet, aber in der Sprache der Mutter geschrieben, im vom Faschismus verpönten Dialekt einer vom Vater »verachteten, minderwertigen, bäuerlichen Welt«; die Widmung war eine Mischung »aus Hass und Mitleid«. Dann in rascher Folge die erste Verwirklichung seiner homoerotischen Neigung, die Entdeckung des Marxismus, die Flucht des jungen Lehrers nach Rom, zusammen mit der geliebten Mutter, während der Vater »in seinem alten Militärmantel« krank und allein zurück blieb. In Rom wurde dann nicht seine Homosexualität zum Ärgernis, sondern die Energie, mit der er sich über seine sexuellen Erfahrungen neue Welten erschloss, erneut »minderwertige«, von der Gesellschaft nicht zur Kenntnis genommene Daseinsformen. Ein Teil des Publikums lachte hysterisch, als im Film Accattone (1961) die Tragödie einer Prostituierten und ihres Zuhälters durch die Musik der Matthäuspassion eine zutiefst religiöse Dimension erhielt. Viele Jahre später bezeichnete Pasolini diesen Film als »Dokument eines kulturellen Genozids«. Die Lebenswelt eines Accattone war vom Fortschritt vernichtet worden. An ihre Stelle, so Pasolini, trat der Massenkonsum, der Vernichter der alten erotischen und religiösen Kulturen, denen er seine letzten Filme gewidmet hat, mit der Erzählfreude eines Chaucer, Boccaccio oder der Märchen aus 1001 Nacht. Ihnen folgt aber als Epilog und Testament Salò oder die 120 Tage von Sodom (1975), ein Film vom Sade'schen Alptraum einer ebenso mechanischen wie totalen Herrschaft über Körper.

Pasolini hat seine Dichtung gegenüber der Filmarbeit jahrelang vernachlässigt und diese Entscheidung hängt sicherlich mit seinem Hunger nach Leben und nach Körpern zusammen. Das Leben lässt sich durch Dichtung, aber »auch allein durch sich selbst« ausdrücken. Dieses »durch sich selbst« ermöglicht die Filmsprache, eine »Darstellung der Wirklichkeit durch die Wirklichkeit«. Aber erst durch den Schnitt erhalten die die Wirklichkeit darstellenden Bilder ihren Sinn. So wie erst der Tod dem Leben Bedeutung gibt. »Die Montage bearbeitet das Material des Films, wie der Tod das Leben bearbeitet«.

In seinen letzten Lebensjahren war Pasolini besessen von der Vorstellung, die totale Macht des Konsums über die Körper führe zu einer anthropologischen Mutation. Sein gewaltsamer Tod ist von seinem Kampf gegen diese Entwicklung nicht zu trennen.

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