Einzelkämpfer

THEATER Die "Theatergroep Hollandia" setzt dem vermutlichen Reichtagsbrandstifter Marinus van der Lubbe ein lebendiges Denkmal

Das Stück Ungelöschter Kalk (Ongebluste Kalk) handelt vom Leben des Marinus van der Lubbe, des Mannes, der im Februar 1933 vermutlich den Reichstagsbrand gelegt hat und von den Nazis unter Beugung des Rechts hingerichtet wurde. Die Diskussion schwelt bis heute (s. Freitag vom 25.2.2000). Hat van der Lubbe ein Signal setzen wollen, um die Menschen gegen die Naziherrschaft aufzurütteln? Wie gelang es den Nazis, das Fanal unmittelbar für sich umzumünzen und in einer Nacht der langen Messer ihre Gegner auszuschalten? Führende Kommunisten mussten zwar im berühmten Leipziger Prozess gegen Dimitroff und andere freigesprochen werden, aber van der Lubbe konnte von den Machthabern als kommunistischer Täter präsentiert werden, als eine Art Untermensch, den auch die Kommunisten als "unzurechnungsfähiges Werkzeug in den Händen der nationalsozialistischen Provokateure" bezeichneten (Dimitroff). Falls die Tat Signalwirkung hätte haben sollen, hat sie nur das Gegenteil des Beabsichtigten bewirkt. Auch das Bild des Täters geriet zwischen die Fronten und wurde bis zur Unkenntlichkeit verzerrt. Die Fotos vom Prozess zeigen den kräftigen Mann mit blöde hängendem Kopf. Und so sieht ihn die offizielle Nachwelt bis heute: kriminell, politisch verrückt oder beides.

Van der Lubbes Geschichte beginnt viele Jahre vorher. Auf die Bühne tritt ein Mann mit der Kraft und dem Lächeln eines Boxers. Ein proletarischer Sportler, der im kommunistischen Jugendverband engagiert ist, ein Maurer, dem Arbeitskollegen bei einem Gerangel einen Kalksack über den Kopf stülpen. Ein Auge wird beschädigt, der Mann wird arbeitslos, gerät in die Mühle der großen Weltwirtschaftskrise, radelt nach Calais, um von dort über den Kanal zu schwimmen und die dafür ausgesetzte Prämie zu gewinnen. Das Wetter ist schlecht, die Überquerung muss abgesagt werden, und nun will dieser vitale Mensch, um nicht auf dem Müll zu enden, nach Sowjetrussland oder nach China wandern. Unterwegs schlupft er bei Bauern unter, stopft seinen Magen tagelang nur mit Äpfeln, hört immer auf die Leute, um zu verstehen, wie sie ihre Lage beurteilen, sieht, wie sie nicht nur ums Überleben, sondern auch um ihre Menschenwürde kämpfen. Er kommt bis Bulgarien und kehrt dann um. Nach Berlin.

Fedja van Huet ist ein großartiger, junger Schauspieler, der diese Geschichte im Alleingang, also im unermüdlichen Gehen erzählt, mit der Sprache seines Körpers, seiner Gesten, mit wenigen Requisiten und einem Text, der aus Briefen und anderen Zeugnissen van der Lubbes montiert ist. Alle Ebenen der Erzählung werden wie im antiken Theater koordiniert und zur tragischen Einheit gebracht "aus dem Geist der Musik". Körper, Bewegungen, Gegenstände haben einen Ton, der von den Musikern, die hoch auf der Bühne stehen, aufgenommen und überführt wird in Rhythmen, in elektronische Klangfarben und komplizierte Melodien aus der Folklore der durchwanderten Länder. Der Komponist Paul Koek bringt die Verhältnisse zum Tanzen, indem er ihnen ihre eigene Melodie vorspielt.

Marinus van der Lubbe ist ein einfacher Mensch - und das irritiert. Die Stimme der Richter wird schneidend, wenn solche Menschen sich vergehen. Die Zuhörer werden kritisch, wenn Autodidakten sich äußern. Der einsame Wanderer nach Syrakus Seume, der Kleistsche Kohlhaas, Büchners Woyzeck, der Brandstifter van der Lubbe, der Hitlerattentäter Elser, sie sind alle Einzelgänger, die ihrem Recht und unbeirrbar ihrer Bestimmung nachgehen. Es sind ebenso sensible wie rohe Figuren, die mit den gängigen gesellschaftlichen Formen nicht umzugehen wissen und sich in ihnen hoffnungslos verheddern. Aber in solchen Menschen leuchtet durch die Anarchie jene Utopie auf, an der wir alle hängen, die wir unerreichbar wissen und deshalb an denen bestrafen, die impulsiv und naiv an ihrer Verwirklichung arbeiten. Van der Lubbe ist nicht nur ein Opfer der Nazis. Bis heute gibt es für so großherzig unglückliche, poetische, proletarische Figuren in der Gesellschaft keinen Platz, und der Berliner Senat weiß, ohne es zu wissen, warum er einem solchen Mann kein Denkmal gönnt.

Anlässlich der Verleihung des "Europa-Preises für Theater" in Taormina auf Sizilien (Theatergroep Hollandia teilt sich den Preis für "neues Theater" mit der italienischen Gruppe Raffaello Sanzio und Thomas Ostermeier) kam die deutschsprachige Version der Inszenierung zur Aufführung. Das holländisch gefärbte Deutsch des van der Lubbe, der als Autodidakt um jeden Ausdruck ringt, hat eine starke, poetische Wirkung. Diese Holländer sind unglaublich. Sie spielen auf holländisch, deutsch und englisch. Man muss anscheinend aus einer kleinen Nation kommen und dort an der Peripherie der Peripherie spielen, um wirklich europäisches Theater zu machen. Der Begriff Peripherie bezieht sich dabei sowohl auf das soziale Umfeld mit seinen besonderen Themen, als auch auf konkrete Aufführungsorte wie Fabriken, Stadien, Schrottplätze und Gewächshäuser. "Einige von uns haben in der Landwirtschaft oder in Gewächshäusern gearbeitet. Da gräbt man Löcher, setzt sorgfältig Pflanzen ein, häufelt Erde, bewässert, beobachtet das Wachstum, erntet, bringt Früchte auf den Markt und das alles sind ähnliche Riten wie die des Theaters", sagen Johan Simons und Paul Koek, die beiden Regisseure der "Theatergroep". Der Ehrgeiz der 1985 gegründeten Gruppe ist es, die Leute nicht nur ins Theater, sondern das Theater auch wieder unter die Leute zu bringen. Zurück zur Wirklichkeit.

Vom 4. bis 6. Mai gastiert Theatergroep Hollandia mit ihrer Produktion "Zwei Stimmen" im Theater am Neumarkt, Zürich

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