Mit Berlusconi die Sau rauslassen

Mediokratie Berlusconi hat an die Stelle der Parteien das Fernsehen gesetzt. Selbst die italienischen Oppositionparteien akzeptieren inzwischen diese Art der Politik

Der Schriftsteller Peter Schneider ärgert sich im Wochenblatt Die Zeit vom 27. August über Leute, die Berlusconi als einen neuen Typ von Politiker ansehen und Gedanken an das traurige Geheimnis seines Erfolgs verschwenden. Denn „es ist bekannt und bedarf keiner Deutung“. Wer mehr zu verstehen sucht, ist ein „Berlusconi-Versteher“ und strebt bloß nach dem „Adelstitel, der da heißt: Meinungsführerschaft“. Wie lautet die Schneidersche Lösung des Rätsels? Die chronische Schwäche der demokratischen Institutionen Italiens und die Korruption ermöglichten den Aufstieg eines skrupellosen Geschäftsmanns, dessen Machtbasis in der Kontrolle von 80 Prozent der italienischen Fernsehsender besteht. Ein „vordemokratischer Sonderfall“, demgegenüber die EU gut daran täte zu erklären, „dass Berlusconis Medienmacht den Grundsätzen einer europäischen Demokratie widerspricht“. Das ist alles richtig, aber unbefriedigend, so dass man mehr verstehen und vielleicht auch tun möchte.

Machos, Rassisten, Underdogs

Die chronische Schwäche der demokratischen Institutionen erzeugt nicht notwendig einen Berlusconi. Es gab über Jahrzehnte eine damals auch von Peter Schneider und der gesamten deutschen Linken geteilte Hoffnung, dass gerade die Schwäche der Institutionen in Italien notwendige, fortschrittlichere Einrichtungen und Verhaltensweisen ermöglichen würde. Wo sind die Träger dieser Hoffnung, die Kommunisten, die Sozialisten, die entschiedenen Verfassungsfreunde geblieben? Ihr rasches, rätselhaftes Verschwinden ist die Kehrseite von Berlusconis Erfolg. Die beiden Rätsel gehören zusammen und sind einzeln nicht lösbar. Ende der achtziger Jahre muss so etwas wie ein demokratisches Vakuum entstanden sein, in das Silvio Berlusconi dank seiner Medienmacht hineingestoßen ist. Mit seinem privaten Fernsehen hat er – unterstützt vom Sozialisten Bettino Craxi – die Mehrheit der italienischen Bevölkerung, die im ganzen 20. Jahrhundert konservativ oder rechts gewählt hat, sowohl demoralisiert als auch mobilisiert.

In einem „gigantischen Verdummungsprozess“ (Camilleri), in den das öffentliche Fernsehen zur Verteidigung seiner Einschaltquoten eingestiegen ist, hat Berlusconis privates Fernsehen das korrupte und vulgäre Italien, das es immer gegeben hat, sichtbar und salonfähig gemacht. Hemmungen fielen, das Volk darf die Sau rauslassen. Politisch aufgefangen wurden diese Stimmen nicht mehr von Parteien, die eine gewisse Kontrolle verbürgen, sondern von neuen Formationen: Machos, Rassisten und Underdogs von der Lega Nord; Idealisten und Ideologen von den ehemaligen Neofaschisten; Leute, die nur in Ruhe ihren Aufstieg zelebrieren wollen oder ihn erhoffen – Leute aus Berlusconis Forza Italia. Ideologisch zusammengehalten wird diese Formation vom Antikommunismus, der im Munde Berlusconis gespenstisch wirkt. Aber in der Politik – das weiß man – gehen immer auch Gespenster um.

Modern, aggressiv, autoritär

Vordemokratisch, aber supermodern schlie­ßen sich nicht aus, sondern bilden eine explosive Mischung. Es mag beruhigend sein, dass Berlusconi kaum mit den Banken und dem Finanzkapital vernetzt ist. Doch sein Medienimperium ist nicht weniger modern und aggressiv. Wo FIAT und die Familie Agnelli auf Grenzen trafen (Widerstand der Gewerkschaften und der öffentlichen Meinung), agiert Berlusconi, ohne auf Gegenwehr zu stoßen. Banken und Industrie haben sich die Politik dienstbar gemacht, müssen aber noch bestimmte Regeln beachten. Die Medienmacht nimmt die Politik nicht nur in Dienst, sie transformiert dieselbe, zwingt sie zur Beachtung ihrer Formen. Mediokratie ist vom Eigentümer der Medien relativ unabhängig. Sie besteht darin, jede politische Äußerung – sowohl der Regierung als auch der Opposition – zwingen zu können, sich unabhängig von Inhalten medial zu inszenieren. Brecht nannte diesen Zwang faschistisch, und man kann trotz des abschreckenden Etiketts seine Ausführungen über diese Art von Theatralität mit Gewinn lesen.

Berlusconi ist ein neuer Typus von Politiker, nicht weil er Medien kontrolliert und über mediale Fähigkeiten verfügt, sondern weil er eine neue Art, Politik zu machen und zu verstehen, auch in den Köpfen der Opposition durchgesetzt hat. Er hat die Parteien als Ort der politischen Meinungsbildung durch das Fernsehen und dessen Inszenierungen ersetzt. Dass jedes Copyright für einen derartigen Großeinsatz der Medien bei Hitler und Goebbels liegt, ändert nichts an der Tatsache, dass dieses System sich unter demokratischen Rahmenbedingungen weiter entwickelt hat. Die Medien werden nicht mehr politisch eingesetzt, sondern Politik kann sich nur noch nach ihren Regeln artikulieren. Die medialen „Sachzwänge“ werden – zusätzlich zu den ökonomischen – von den Akteuren verinnerlicht. Politik ist, was übrig bleibt. Ein Rest.

Von der Frankfurter Schule bis Jacques Derrida spekulierten die Philosophen darüber, wie Medienmacht (die mehr ist als Konzentration) den politischen Raum und die politische Rede selbst verändert. Jetzt lässt sich das Phänomen empirisch in seiner ganzen Tragweite beobachten – in Italien. Aber ich glaube nicht, dass die hier angesprochenen Prozesse nur das Werk Silvio Berlusconis sind und sich auf Italien beschränken. Der Clown signalisiert einen allgemeineren Ernstfall.

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