Ende April hat der Filmclub »Arsenale« in Pisa, derzeit eine der besten Kino adressen in Italien, zusammen mit einer kleinen Retrospektive die Uraufführung des Films Sicilia! von Jean Marie Straub und Danièle Huillet organisiert. Anschließend ging Sicilia! nach Cannes und Pesaro und wurde dort von jenen wenigen Kritikern wahrgenommen, die mit eigenen Augen sehen und sich dem mainstream des von der Werbung finanzierten Geschmacks entziehen. Nach dem Ende der Festivalsaison geistert der Film nun durch die Nachtprogramme der Fernsehanstalten oder wird zu besonderen Anlässen gezeigt (zum Beispiel beim Literaturpreis »Premio Vittorini«).
Für Filme dieser Art Öffentlichkeit herzustellen, bedarf es immer besonderer Anstrengungen und am Schicksal von Sicilia! läßt sich der Zustand des öffentlichen Raumes, in dem Kino lebt, ablesen. Auch Filme haben ihre »Hautfarbe«, und Straub spricht von Rassismus, wenn bestimmte Filme, nur weil Minderheit, ihre Daseinsberechtigung vor der »heiligen Kuh des Marktes« zu legitimieren haben, auch wenn kein Kenner negiert, dass die 22 Filme von Jean Marie Straub und Danièle Huillet aus vielerlei Gründen ein imponierendes Werk sind.
Dieses Oeuvre entstand in 40-jähriger Arbeit. Es sind deutsche, französische und italienische Filme, je nach dem Land, der Sprache und den Menschen, die die Töne und Bilder prägen; sie sind aus diesen und anderen Gründen einer eigensinnigen Ästhetik des Handwerks verpflichtet und garantieren eine technische Perfektion, die man bei der gewöhnlichen, industriellen Filmproduktion nicht mehr kennt. Zunehmend stellen diese Filme daher unsere Seh- und Hörgewohnheiten in Frage beziehungsweise die »Gesetze« des Machens und Verteilens, die heute den gesellschaftlichen Filmgenuß regeln. Es geht um die einfachen Dinge, die schwer zu haben oder zu machen sind: qualitätsbe wusste Techniker; ein ordentliches Kopierwerk; Apparate und Vorführer, die die Kopie sorgfältig behandeln; Zuschauer, die eine stellenweise Rückkehr zum Stummfilm nicht für einen technischen Defekt halten oder die die Namen im Abspann vor dem Schlussbild Vittorinis mit der Musik Beethovens (Quartett, Nr. 12, opus 132) nicht als bloße Konvention nehmen.
Wir sprechen von Sicilia! (das Ausrufezeichen signalisiert auch: Vorsicht, Heimatfilm), gedreht nach Gespräch in Sizilien von Elio Vittorini. Der letzte Dialog des Films endet mit den Worten: »Mörser, Sicheln und Hammer, Kanonen, Kanonen, Dynamit«. Ein Scherenschleifer wünscht in einem gottverlassenen Dorf Siziliens die Revolution herbei, damit die »Beleidigung der Welt« ein Ende nehme. Straub: »Wer von der Heftigkeit dieses Wunsches betroffen ist, braucht einen Augenblick Zeit. Er muss verstehen, dass die Dinge nicht gut stehen. Sonst wird es demagogisch. Daher die Musik, bei der es Beethoven um Genesung geht (ÂHeiliger Dankgesang eines GenesenenÂ). Es ist eine Barbarei, diese Musik über dem Abspann einfach als Ausklang zu überhören«. Auch das Foto von Elio Vittorini (1908-1966), mit dem der Film endet, hat es »in sich«. Die Straubschen Filme beruhen auf Texten von Autoren wie Böll, Kafka, Schönberg, Brecht, Mallarmé, Duras, Pavese, Fortini, Hölderlin, und diese »Zusammenarbeit« nehmen die Straubs mit großer Bescheidenheit ungeheuer ernst. Sie spüren die unterirdischen, oft verschütteten Verbindungslinien auf, die einen Hölderlin mit Lukrez und über diesen mit Cézanne verbinden; sie erkennen die Wahlverwandtschaft, wenn sie bei Vittorini lesen, dass zwischen dem »Pessimismus« eines Hölderlin und dem Zukunftsvertrauen eines Marx ein Zusammenhang besteht wie der der Mischung eines lebensrettenden Giftes.
Vittorini gehört, ebenso wie Pavese (1908-1950), zu den Pionieren der modernen Literatur Italiens. Drei Jahrzehnte vor Pasolini erlebte diese Generation die Destruktion des Mythos als Folge der Industrialisierung. Analog zur berühmten Formel Lenins »Sozialismus heißt Elektrizität plus Sowjetmacht« könnte man sagen, dass für Vittorini Modernität bestand aus »Volk plus Industrie«, was ihn in einer ersten, populistischen Phase dem Faschismus nahe brachte. Der Spanienkrieg war dann die Wende. Vittorini wurde Kommunist, immer im Zeichen der Lösung des Verhältnisses »Volk und Industrie«. In dieser ganzen italienischen Erfahrung der dreißiger Jahre (Gramsci, Pavese, Vittorini, Levi) bestand die italienische Bevölkerung noch wesentlich aus Bauern, die vor dem großen Schritt in die moderne Geschichte standen.
Vittorini beschreibt diesen Schritt spiegelverkehrt als eine Heimkehr nach Sizilien, als einen Abstieg ins Land der Mütter, verfaßt in den Jahren 1938/39. Bei Pavese und Vittorini, die in den dreißiger Jahren als Gegengift zum italienischen Nationalismus die amerikanische Literatur entdeckten, wird der mediterrane Mythos zum unverlierbaren Teil (Heimat!), der die Bauern zur Geschichte befähigt. Diese »anthropologische Spannung« finden wir bereits im Straub-Film Von der Wolke zum Widerstand (1979, nach Pavese), den Leute wie Godard und Rivette zu den größten »italienischen« Filmen der Nachkriegszeit zählen.
20 Jahre später schließt sich ihm Sicilia! an, ein Schwarzweißfilm. »Wir hatten die Nase voll vom bunten Sizilien«, sagt J.M. Straub. Aber er verweist auch auf eine Überlegung Vittorinis aus dem Jahre 1936 zu »Die Farbe im Film«. Vittorini bemerkt, wie der Stummfilm zunächst die Dimension des Tons, dann die der Farbe hinzugewinnt und wie jeder Zugewinn sich als künstlerischer Verlust erweist, wenn er nicht zu einer neuen ästhetischen Dimension führt. Ton und Farbe lassen sich nicht einfach zum Bild addieren. Als ästhetisches Experiment der Subtraktion erinnert Sicilia! daran, dass es »von Anfang an das Schicksal des Films war, zur Fotografie verdammt zu sein« (Straub). Die Aufnahmen der Orangenpflücker neben dem Korb unverkaufter Früchte erinnern an Tina Modotti, an Walker Evans, das heißt an die große, soziale Fotografie der zwanziger und dreißiger Jahre. Und nach diesen ersten Bildern steigt der Reisende aus dem Norden oder aus Amerika, der nach Jahren der Abwesenheit seine Mutter aufsucht, in den Zug, und der Film fährt ins Herz Siziliens, das ebensogut das Herz Deutschlands oder Persiens sein kann, aber auf jeden Fall unser Herz ist.
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