Das Rossini Opera Festival, vom Publikum kurz ROF genannt, hat in den 28 Jahren seines Bestehens Gioacchino Rossini (1792-1868) vom Ruf eines genialen, aber oberflächlichen musikalischen Tausendsassas befreit und sein Werk als modern und aktuell zu neuer Geltung gebracht. Eine kleine Kulturrevolution auf drei soliden Grundlagen: kritische Werkausgabe, experimentierfreudige Aufführungspraxis und eine Accademia Rossiniana, die unter der Leitung von Alberto Zedda junge Sänger ausbildet. "Noch vor 30 Jahren", so Zedda, "gab es höchstens ein Dutzend Sänger die Rossini singen konnten, meist im angelsächsischen Kulturkreis, der Händel pflegte und wusste, was der Barock für die Stimmen bedeutet. Rossini erfordert nicht nur eine bestimmte Technik, sondern ein
ein besonderes Verständnis. Wer hier korrekt singt, Note für Note, erzeugt nur Langeweile. Das mag mit Verdi, auch mit Mozart gut gehen, bei deren Musik selbst schlechte Sänger uns zu Tränen rühren. Bei Rossini ist das verteufelt kompliziert. Seine Musik besteht aus einem so einfachen Vokabular, dass sie auf Anhieb arm und phantasielos klingt. Alle seine Partituren sind gleich. Ein Sänger, der nur die Noten singt, ist verloren. Er muss singen, was hinter den Noten steht. Das ist das große Mysterium Rossini".Die hinreißendste Musik der Welt: abstrakt und leer. Das ist das Paradox Rossini, das die Zeitgenossen begeisterte und das die Moderne wieder zu entdecken hat. Zedda spricht von Klee, Kandinski, Mondrian und vor allem Miró als den Paten einer Rossinischen Bühne. Noch vor wenigen Jahren wäre eine solche Bemerkung völlig abstrus erschienen. Heute experimentiert das Festival in Pesaro mit diesen Ideen. Nicht immer mit Erfolg. Im diesjährigen Otello ist die Inszenierung gründlich misslungen. Die Koproduktion mit Lausanne und der Deutschen Oper Berlin zitiert Magritte, um eine metaphysische Atmosphäre von Meer und Palast zu schaffen. Doch anstatt der mysteriösen Stille eines leeren Raums entsteht eine Langeweile, in der die Musik ruhmlos untergehen würde, wären nicht die Stimmen von Gregory Kunde (Otello), Chris Merritt (Jago), Juan Diego Florez (Rodrigo) und Olga Peretyatko (Desdemona). Florez ist der absolute Publikumsliebling in Pesaro, Olga Peretyatko eine vielversprechende Entdeckung der Accademia Rossiniana. Es gab Buhrufe für die Inszenierung und man hätte diesen Abend ebenso gut am Radio verfolgen können.Nicht so Il turco in Italia (Ein Türke in Italien), die glänzende Wiederaufnahme einer Inszenierung aus dem Jahre 2002. Ausstattung und Regie (Guido De Monticelli) unternehmen alles, damit der Hörer sich nicht in der Unbestimmtheit dieser Musik verliert. "Die Musik wiederholt immer die gleichen Worte, aber bei jeder Wiederholung gibt sie dem gleichen Wort eine andere Bedeutung", schrieb Stendhal bei der triumphalen zweiten Aufführung 1818 an der Mailänder Scala. Die Premiere 1814 war ein Misserfolg gewesen, denn die italienischen Männer fühlten sich in ihrem Stolz verletzt. Natürlich geht es um Liebe. Genauer, um die Auswirkungen der Liebe, um die Gefühle, die sie erzeugt: Eifersucht, Hass, Glück und jede sonstige Art von Delirium. Fiorilla verheiratet und überdies mit einem Liebhaber versehen, hält die ganze Männerwelt in Atem. Die Ereignisse überstürzen sich, als die junge Frau sich auch noch in einen Türken verliebt und diesem folgen will. Schließlich rafft sich der eher vertrottelte Ehemann zu einem Machtwort auf, während der Türke mit einer anderen Frau das Weite sucht. Mit der großen, rebellischen Freiheit Fiorillas ist es vorbei und ihre Schlussarie gehört zum Dramatischsten, was Rossini je geschrieben hat. Das Happyend der Opera buffa hat einen tragischen Unterton, der nur in der Musik zu hören, aber nicht im Libretto zu finden ist. Ein Regisseur, der sich bei Rossini auf das Libretto verlässt, ist verloren. Es ist die Musik, die Regie führt.La gazza ladra (Die diebische Elster) wurde zum Höhepunkt unter den diesjährigen Aufführungen, weil die Inszenierung des jungen Damiano Michieletto dieses Prinzip äußerst originell verwirklicht hat. Das Stück gehört zum Genre der Opera semiseria. Der Erfolg der Darbietung hängt daher von der Kunst ab, ein glückliches Mischungsverhältnis von Ernst und Spaß herauszufinden. Die Geschichte von dem zu Unrecht des Diebstahls geziehenen Mädchen, dem die Todesstrafe droht, das aber auf Grund einer glücklichen Wendung den Sohn des Hauses heiratet, vollzieht sich wie im Traum. Es ist ein Traum in der Schwebe zum Albtraum, der bei dieser Aufführung die Wirklichkeit und die Qualität ihres Happy-Ends in Frage stellt. Rossinis Ambivalenz wird in ein surrealistisches Licht getaucht, bis die Spannung sich im Wirbel der Musik auflöst, in jenem für Rossini so typischen rasenden Stillstand, der entsteht, wenn die Bewegung der Dialektik blockiert ist und die Geschichte sich in Ausflüchten zu retten sucht. Mit dieser wunderbaren Aufführung ist Rossini im 21. Jahrhundert angekommen.