Kolumne #16: Auf die Ratte gekommen

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► Die wenigsten Menschen mögen Ratten. Aber muss man sie deswegen gleich totknüppeln? In Indien werden sie als heillig verehrt.

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Zu meiner Schulzeit hielt sich eine meiner Klassenkameradinnen Hausratten. Wenn ich mich schon nicht in der Lage sah, ihre Vorliebe für die Nager zu teilen, versuchte ich zumindest sie zu respektieren. Trotzdem. Mir blieb unbegreiflich, warum man sich Ratten anschafft, wenn es auch so liebenswerte Haustiere wie Meerschweinchen, Kaninchen, Hamster und Rennmäuse gibt.

Heute wäre mir das herzlich egal. Geschmäcker sind eben verschieden. Doch so wirklich viel kann ich den Tieren noch immer nicht abgewinnen, mit ihren langen, geringelten, halbbehaarten Schwänzen – okay, Hand auf’s Herz: Ich hasse Ratten. Zumindest dachte ich das. Bis mir vor kurzem im Hinterhof meiner Schöneberger Mietskaserne eine über den Weg lief. Meine erste wirkliche Begegnung mit einer freilebenden Wanderratte.

Doch anders als ich mir eine solche Situation im Vorfeld ausgemalt hatte, erschrak ich nicht. Im Gegenteil. Das Tierchen machte einen sympathischen Eindruck. Die Ratte kam gemächlichen Schrittes aus Richtung unseres Hauseingangs, warf einen lässigen Blick zu mir hoch und verschwand in seinem Bau zwischen zwei Betonpflastern. Das Tier – ich nenne es mal Karl-Heinz – strahlte eine Aura der Gelassenheit auf mich aus, die so stark war, dass ich den Rest des Tages entspannt bis beflügelt durch meinen Alltag glitt.

Sorge bereitete mir nur die Frage: Was nun? Denn im Hof herrscht eine echte Rattenplage. Deshalb steht unser liebenswürdiger, bayrischer Hausmeister Rudi auf Kriegsfuß mit den Tieren. Als er eines Tages die Gelbe Tonne öffnete, erzählte Rudi, sprangen ihm drei wohlgenährte, doch ob der Störung gereizte Exemplare entgegen. Tierfreund Rudi, der zwei ebenfalls wohlgenährte Katzen verhätschelt, blieb bei aller Tierliebe nichts anderes übrig, als die feindsinnigen Biester mit tot zu knüppeln.

An unserer Kellertür klebt eine Aufschrift: „Vorsicht Rattengift“. Nun trage Wohl oder Übel die Verantwortung über Leben und Tod einer ganzen Familie. Denn eins ist klar: Wenn Rudi von Karl-Heinz erfährt, dann ist nicht nur Karl-Heinz sondern seine gesamte Sippschaft dran. Das Problem ist nur: Im Vorderhaus ist ein Restaurant. Es soll gut sein, habe ich gehört. Über Ratten hat sich noch niemand beschwert.

Die Situation erinnert automatisch an die Pixar-Produktion Ratatouille, in der Gourment-Ratte Rémy den talentlosen Küchenjungen Linguini auf die Sprünge hilft, und ihm inkognito zu kulinarischen Meisterwerken treibt. Natürlich. So sind Ratten nicht. Sie laufen nicht auf ihren Hinterläufen, waschen sich die Pfoten, bevor sie zu Tisch gehen, oder putzen sich vor dem Zubettgehen die Nagezähne. Ratten sind Allesfresser und Schädlinge. Sie fressen Bauern die Ernte weg, nagen an Wurzeln und Knollen, wie an Wasser- und Abwasserleitungen und richten so einen enormen Schaden an. Außerdem verbreiten sie Krankheiten, auch wenn sie nicht als einzige Schuldige für die Pestepidemien des Mittelalters haftbar gemacht werden können.

Aber trotzdem. Wie könnte ich ruhig schlafen, wenn ich Karl-Heinz auf dem Gewissen hätte. Im Hinduismus stehen Ratten für Intelligenz und Kreativität. Sie dienen dem der Gotheitt Ganesha – das ist der mit dem Elefantenrüssel im Gesicht – als Reittier. Im Karni-Mata-Tempel leben etwa 20.000 Ratten in Saus und Braus. Sie gelten als heilig. Die Gläubigen umsorgen sie mit mitgebrachten Speisen und Getränken. Wem eine Ratte über den Fuß läuft, dem soll es Glück bringen. Und während sich Karl-Heinz und Familie mit den Überresten aus dem Restaurant abgeben müssen, läuft es im Tempel umgekehrt. Ich brauch das nicht näher auszuführen oder?

Mal abgesehen von all dem, ist Karl-Heinz mir einfach sympathisch. Ich kann und will ihn nicht ans Messer liefern. Klar. Diese Haltung ist ohne Frage absolut bigott, wenn ich dran denke, wie viele Schweine, Rinder, Lämmer, Enten, Hühner … und vielleicht auch Ratten (McDonalds) ich schon auf dem Gewissen habe. Übrigens vertrete ich auch den Standpunkt, dass jeder Mensch, der Fleisch ist, auch in der Lage sein muss, Tiere töten zu können. Nun da die Lebensmittelindustrie niemanden vor diese moralische Prüfung stellt, war das größte Tier das ich bisher getötet habe ein Fisch und der war nicht der größte Fang. Auch ein Huhn könnte ich noch abmurksen, denke ich. Bei Schweinen und Rindern sähe das mit aller Gewissheit etwas anders aus.

Wie auch immer. Karl-Heinz habe ich jedenfalls nicht auf meiner Speisekarte. Solange er und seine Leute nicht auffallen, wird ihnen nichts zustoßen. Also Karl-Heinz, auch wenn du das hier nicht lesen kannst: Ich wünsche Dir und deiner Familie das Beste. Halte einfach die Füße still und Rudi lässt Dich in Frieden.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Knobloch

Seit September arbeite ich als ifa-Redakteur bei Radio Neumarkt in siebenbürgischen Neumarkt, Târgu Mureș

Peter Knobloch

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