Mit der Ruhe hat es ein Ende

Rumänien Jahrelang hielten die Rumänen trotz Einschnitten in ihren Lebensstandard still. Nun entlädt sich die Wut im Streit über eine Gesundheitsreform

Zum ersten Mal seit den frühen neunziger Jahren wird Bukarests Universitätsplatz wieder Schauplatz öffentlicher Proteste. Am Wochenende forderten über tausend Menschen den Präsidenten zum Rücktritt auf, die zunächst friedlichen Demonstrationen mündeten in Gewalt mit Tränengas, Wasserwerfern und etlichen Verletzten. Am Montag gingen nach Angaben der rumänischen Gendarmerie landesweit rund zehntausend Bürger gegen die Regierung auf die Straßen. Auch jenseits der Hauptstadt gab es in mehr als 39 Städten Proteste.

Der Aufruhr kommt scheinbar aus dem Nichts. Denn lange waren die Rumänen still, nahmen Einschnitte leise murrend hin, während sich in anderen europäischen Ländern bereits Widerstand gegen Sparbeschlüsse formierte. In Rumänien war es am vergangen Freitag soweit. Präsident Traian Băsescu hatte das Fass zum Überlaufen gebracht, als er mit einem Anruf wütend in eine Fernsehsendung platzte. Dort äußerte sich der Staatsuntersekretär Raed Arafat kritisch zur geplanten Gesundheitsreform der Regierung, die auf eine umfassende Privatisierung hinausläuft. Băsescu warf Arafat in der Live-Übertragung vor, falsche Informationen zu verbreiten und einen öffentlichen Skandal lostreten zu wollen.

Doch der so Angegriffene – ein gebürtiger Palästinenser – ist bei den Rumänen äußerst beliebt. Arafat hatte Anfang der neunziger Jahre den SMURD gegründet, einen der heute erfolgreichsten Rettungsdienste in Osteuropa, wie der rumänischstämmige Journalist Cristian Cercel im Guardian schreibt. Über den SMURD sagt Cercel weiter: „Viele Krankenhäuser in Rumänien lassen sich als Vorräume zum Tod bezeichnen, aber das System, das Arafat gegründet hat, ist in den Augen vieler Rumänen eines der wenigen Dinge, die einwandfrei funktionieren ­– es rettet buchstäblich Leben.“

Aus Protest gegen die geplanten Reformen trat Arafat von seinem Posten im Gesundheitsministerium zurück. In Târgu Mureș (Neumarkt) gingen aus Solidarität zum SMURD-Gründer Hunderte Menschen auf die Straße. Ähnlichen Solidaritätsbekundungen zu einer Figur des öffentlichen Lebens endeten 1989 im Sturz des Ceaușescu-Regimes. Damals galt die Unterstützung dem ungarischen Priester László Tőkés, der nach Wochen unter Hausarrest in einen politischen Hungerstreik trat.

Brodelnde Empörung

Auch diesmal mündete die Unterstützung für den protestierenden Staatsuntersekretär nur einen Tag später in landesweiten Protesten. Das sonst politisch so apathische Land hat offenkundig über Nacht die Straße als politisches Druckmittel neu für sich entdeckt. Wer sich noch vor einem Jahr in der rumänischen Hauptstadt bewegte und mit den Leuten sprach, hätte nicht ahnen können, dass es jemals zu Protesten kommen könnte.

Dabei hatten viele Rumänien schon damals Grund zur Empörung. Die Regierung hatte die Mehrwertsteuer erhöht und Gehälter gekürzt. Die Maßnahmen waren Bedingungen für einen Kredit über rund 20 Milliarden Euro vom Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der EU. Die Kreditgeber stellten die Regierung vor eine Wahl zwischen Pest und Cholera: Entweder Rumänien senkt die Gehälter der Staatsbediensteten um 25 und die Renten um 15 Prozent, oder das Land hebt seine Mehrwertsteuer von 19 auf 24 Prozent an. Die Regierung von Emil Boc entschied sich für einen Giftcocktail aus Beidem, zog die Mehrwertsteuer an und beschnitt die Bezüge der Staatsbediensteten. Nur die Rentner blieben verschont.

Als in Griechenland die Regierung Papandreou zu ähnlichen Mitteln griff, brannten in Athen die Straßen. Die Rumänen brodelten innerlich, blieben ruhig und taten, was sie immer tun. Sie gingen zur Arbeit. Eine EU-Statistik zeigte kürzlich: In Stunden gerechnet wird in keinem Land der EU im Schnitt mehr gearbeitet als in Rumänien. Mit seinen jährlichen Pro-Kopf-Einkommen liegt das Land dagegen gemeinsam mit dem Nachbarstaat Bulgarien auf den letzten Rängen.

Nun setzen die Proteste Präsident Băsescu unter Druck. Am Freitag ließ er verkünden, dass die Gesundheitsreform zurückgenommen werde. „Mir scheint, dass viele mit dem derzeitigen Gesundheitssystem glücklich sind“, gab Băsescu nicht ohne Trotz klein bei. Doch dafür war es zu spät, die Stimmung unter den Demonstranten hatte ihren Siedepunkt bereits erreicht.

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Geschrieben von

Peter Knobloch

Seit September arbeite ich als ifa-Redakteur bei Radio Neumarkt in siebenbürgischen Neumarkt, Târgu Mureș

Peter Knobloch

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