Wer in den vergangen Tagen die ungarische Grenze mit dem Auto passierte, konnte es vielleicht bemerken: Männer in neonoranger Sicherheitskleidung tauschten dort die Grenzschilder aus, das Land bekommt einen neuen Namen. Ab 2012 heißt es nicht mehr Ungarische Republik, sondern nur noch Ungarn – Magyarország, Magyarenland. Der Grund: Ein halbes Jahr nach dem umstrittenen Mediengesetz tritt mit Jahresbeginn eine neue Verfassung in Kraft – und die hat es in sich. Sie beginnt mit einem „ Nationalen Glaubensbekenntnis“. Im Mittelpunkt dieser Präambel stehen Christentum, Familie, Nation und Krone. Zwar findet man in so mancher Präambel allerlei nationalistisches Gedöns, doch diese ist in Ungarn künftig auch rechtsbindend.
Die neue Verfassung ist bislang Höhepunkt einer rasanten Entdemokratisierung des Landes. Sie begann im April 2010. Bei den damaligen Parlamentswahlen erreichte Ministerpräsident Viktor Orbán mit seiner Partei (Fidesz) eine Zwei-Drittel-Mehrheit. Seitdem peitscht er ein Gesetz nach dem anderen durch das Parlament. Doch in Ungarn regt sich Widerstand. Zum Jahrestag der 1956er Revolution am 23. Oktober gingen in Budapest rund 70.000 Ungarn für eine freie Presse auf die Straße. Es war die größte Massendemonstration seit der Wende.
Kritik gegen die immer offenkundigere Zensur der Medien kommt auch aus dem Ausland. Einer, der Ministierpräsident Orbán immer wieder scharf attackierte, ist der Europaparlamentarier Daniel Cohn-Bendit. Im Januar verglich er Orbán mit einem europäischen Chávez.
Methodik der Manipulation
Ungarische Medien, die besonders der staatlichen Kontrolle unterstehen, diffamieren Cohn-Bendit seitdem als pädophil. So auch als die grüne Oppositionspartei (LMP) ihn zu einer Pressekonferenz nach Budapest lud. Cohn-Bendit hatte im Vorfeld kritisiert, dass die künftige Verfassung die traditionelle Familie in den Mittelpunkt stellt und so andere Gemeinschaftsformen ausgrenzt. Ein Reporter drehte den Spieß um und warf dem Alt-68er vor, er halte Kindesmissbrauch wohl für demokratische Grundwerte. „Dany le Rouge“, wie die Studentenbewegung ihn nannte, blieb gelassen und beantwortete die Frage sachlich. Der Reporter Dániel Papp schnitt den TV-Beitrag anschließend jedoch so zusammen, als sei Cohn-Bendit auf seine Frage von der Pressekonferenz geflüchtet.
Für seine Arbeit im Dienste der Propaganda wurde der Nachrichtenfälscher befördert. Papp, der bis vor wenigen Jahren noch politischer Sprecher der rechtsextremen Jobbik war, stieg im Alter von nur 32 Jahren zum Nachrichtenchef des mächtigsten staatlichen Medienkonzerns auf, der MTVA. Sie ist ein Zusammenschluss aller öffentlich-rechtlichen Rundfunksender sowie der ungarischen Nachrichtenagentur – ein Ergebnis Orban’scher Gleichschaltung.
Vor kurzem ging Aufsteiger Papp aber dann doch zu weit. In einem TV-Beitrag ließ er den ehemaligen Präsidenten des obersten ungarischen Gerichts, Zoltán Lomnici, retuschieren als dieser durchs Bild lief. Lomnici gilt in der Orbán-Führung als „persona non grata“. Nachdem die Retusche bekannt wurde, traten einige ungarische Rundfunk-Journalisten in den Hungerstreik. Sie fordern, dass alle Verantwortlichen für die Manipulation zur Rechenschaft gezogen werden. Auf Druck der Streikenden wurde Papp vom Dienst suspendiert. Während sein Kollege Gábor Élö fristlos entlassen wurde, musste Papp selbst nur das Ressort wechseln. Ein Hinweis darauf, dass es sich bei diesen Personalentscheidungen wohl nur um kosmetische Eingriffe handeln dürfte.
"Letzte Zuckung des Rechtsstaats"
Hoffnung machte wenig später ein Urteil des ungarischen Verfassungsgerichts. Es erklärte einige Abschnitte des umstrittenen Mediengesetzes für verfassungswidrig. So darf die staatliche Medienbehörde nach Auffassung der Richter Journalisten nicht dazu zwingen, ihre Quellen preiszugeben. Auch ein Gummiparagraph, nach dem Print- und Onlinemedien ausgewogen zu berichten hätten, ist aus Sicht der Richter verfassungswidrig.
Der deutschsprachige Pester Lloyd sieht in dem Urteil allerdings nur noch die „letzte Zuckung des Rechtsstaats“. Zwar wies das Gericht die Regierung an, die rechtswidrigen Passagen des Mediengesetztes bis Ende Mai auszubessern. Doch Stratege Orbán hat vorgesorgt: Die neue Verfassung hebt die Altersobergrenze der Richter an – und schickt so potentielle Vetospieler in den vorzeitigen Ruhestand. Gleichzeitig wird in der neuen Konstitution die Zahl der Richter erhöht. Neue Posten gehen dann selbstverständlich an Orbáns Kumpanen aus der Fidesz.
Ob das Urteil zum Mediengesetz auch nach Inkrafttreten der neuen Verfassung noch gilt – „Nobody knows“, sagte Kim Lane Scheppele gegenüber dem Freitag. Lane Schappele leitet die Fakultät für Recht und Öffentliche Angelegenheiten in Princeton und schreibt für die New York Times über die „konstitutionelle Revolution“ in Ungarn.
Denn nicht nur das Urteil zum Mediengesetz, sondern alle bisherigen Verfassungsurteile stünden derzeit zur Disposition, erklärt die Rechtswissenschaftlerin, die viele Jahre zur Arbeit des Verfassungsgerichts in Ungarn forschte. Laut Lane Scheppele gehen die meisten ungarischen Juristen aber davon aus, dass die bisherigen Entscheidungen des Gerichts ihre Gültigkeit behalten werden. Mit ihrer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament ist die Fidesz allerdings jeder Zeit im Stande, alle alten Urteile für null und nichtig zu erklären. Dass gerade das aktuelle Urteil zur Pressfreiheit revidiert werden könnte, hält Lane Scheppele für durchaus wahrscheinlich. Zu sehr stünden die neuen Mediengesetze im Widerspruch zum Presserecht in der alten Verfassung.
Die Professorin bewertet das Urteil als wenig nützlich. Da es allein für Print- und Online-Medien gilt, habe es vor allem den Blick vom eigentlichen Problem gelenkt: der staatlichen Kontrolle im Rundfunk. Die Medienbehörde, die der MTVA bei der Arbeit auf die Finger schaut, ließen die Verfassungsrichter unangetastet. Premier Orbán hob ihren Chef für ganze neun Jahre ins Amt. Das ermöglicht Viktor Orbán, die Medien auch nach seiner Zeit als Ministerpräsident an der kurzen Leine zu halten. Ähnlich bewertet Heinz Albrecht Huthmacher, Büroleiter der Friedrich-Ebertstiftung in Budapest, die Lage in Ungarn.
Letzter Sender muss dicht machen
Wie wenig ernst die Regierung das jüngste Urteil zum Mediengesetz nimmt, offenbarte sich nur einen Tag nach dem Richterspruch. Die staatliche Medienbehörde entzog dem letzten oppositionellen Radiosender seine Sendefrequenz. „Klubrádió“ hatte in Ungarn eine halbe Millionen Hörer. Den Sendeplatz bekam das bisher völlig unbekannte „Autórádió“. Reporter der oppositionellen Zeitung Népszabadság fanden heraus, dass hinter dem Sender eine Strohfirma steckt. Oppositionspolitiker machen Regierungschef Orbán persönlich für die Entscheidung verantwortlich.
Am Tag, nachdem Klubrádió die Frequenz entzogen wurde, protestierten wieder Tausende Ungarn gegen die rasante Entdemokratisierung in ihrem Land. Neben den Fernsehjournalisten – die bereits 13 Tage im Hungerstreik harrten – war auch das neue Gewerkschaftsbündnis Szolidaritás unter den Demonstranten, nicht zufällig ist ihr Name an die polnische Solidarnosc angelehnt.
Die Zensur in Radio und Fernsehen ist aber nicht das einzige Problem der Ungarn. Die Regierung Orbán hat auch das Arbeitsrecht massiv beschnitten. Wer zum Beispiel Kritik am Arbeitgeber übt, kann künftig rechtmäßig entlassen werden. Ebenso werden Obdachlose in neuen Paragraphen kriminalisiert.
Die Regierung brachte auch die Rentner gegen sich auf. In einem gewaltigen Zwangsakt überführte sie die private in die staatliche Altersvorsorge. Alle, die branchenbedingt zur Privatvorsorge verpflichtet waren, mussten sich entscheiden: Entweder sie wechselten vollständig und ohne Ansprüche auf ihr Erspartes in die staatliche Altersvorsorge oder sie blieben auf eigenes Risiko bei den privaten Versicherern. Die meisten entschieden sich für den Biss in den sauren Apfel und ließen sich enteignen. Ihre Beiträge an die privaten Versicherer müssen sie weiter zahlen. Statt in die eigene Vorsorge fließen die Gelder direkt ins Budget der Regierung. Die Regierung trocknet so die privaten Versicherungen aus, so die Einschätzung von Heinz Albrecht Huthmacher.
Letzte Mittel der Opposition
Neben der Solidaritás gründete sich im Zuge der Proteste eine neue linksgerichtete Partei. „Die Vierte Republik“ spielt mit ihrem auf die Umbenennung in der neuen Verfassung an. Hinzu kommen zahlreiche Aktionen auf Facebook und Protestsongs im Internet. In der politischen wie zivilgesellschaftlichen Opposition sieht Huthmacher allerdings wenig Hoffnung. Wie der linke politische Flügel seien auch die Gewerkschaften zu stark zersplittert, um gegen die hemmungslose Machtpolitik von Viktor Orbán vorzugehen.
Wie am Vortag füllten auch am 23. Dezember bis zu zehntausend Regierungskritiker die Straßen der Budapester Innenstadt. Die grüne LMP hatte zu den Protesten aufgerufen. Am Vormittag hatten sich Abgeordnete der Opposition, vor allem der LMP, an die Zugänge zum Parlamentsgebäude gekettet. Unter ihnen war auch der ehemalige Ministerpräsident Ferenc Gyurcsány. Die demonstrierenden Politiker wurden für kurze Zeit festgenommen und abgeführt, kamen aufgrund ihrer politischen Immunität jedoch am Nachmittag beziehungsweise am Abend wieder frei.
Mit ihrer Aktion wollten sie verhindern, was drinnen ohne jede Debatte geschah: Die Fidesz peitschte noch kurz vor Weihnachten zwei Duzend höchst kritikwürdige Gesetze durch das Parlament. Die Proteste ihrer politischen Gegner spielte sie als „Theater“ herunter. Ein Regierungspolitiker bemerkte im ungarischen Fernsehen abfällig, die demonstrierenden Abgeordneten sollten die Demokratie doch besser im Parlament verteidigen. Die Frage ist nur wie. Gegen die Zwei-Drittel-Mehrheit der Fidesz hat die Opposition nichts in der Hand. Ihre letzte Waffe ist der Zorn der Bürger.
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