Ungarn im Chaos

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Etwa ein Prozent aller ungarischen Staatsbürger ist am Montag in Budapest auf die Straße gegangen. Der Druck auf Ministerpräsident Viktor Orbán wächst.

Als Ungarns Ministerpräsident in der Ungarischen Staatsoper am Montag das Glas hob, da tobte vor den Türen die Straße. Auf der Budapester Andrássy út demonstrierten an die hunderttausend Menschen gegen Viktor Orbán und seine Regierung. Wenn die Zahl stimmt, war ein Prozent der gesamten ungarischen Bevölkerung auf der Straße, (die fünf Millionen Auslandsungarn mal bewusst von der Rechnung ausgenommen). Ihre Wut regte sich gegen die Zensur in der Presse, gegen die Enteignung von Rentnern, gegen die Entrechtung von Religionsgemeinschaften, gegen eine kopflose Ad-hoc-Politik, gegen falsche Versprechen und vor allem gegen das Grundgesetzt, die neue ungarische Verfassung, auf welche die Herren von „Zwei-Drittel Gnaden“ drinnen anstießen. Mit der Verfassung setzt Orbán sich und seiner Entwicklung zum autokratischen Herrscher selbst die Krone auf.

Was er einst als „Revolution an den Wahlurnen“ bezeichnete, muss Orbán als demokratische gestützte Ermächtigung missverstanden haben. Seit seine Partei mit zwei Drittel-Mehrheit regiert, glaub der Mann, einmal gewählt habe er die demokratische Legitimation auf ewig für sich gepachtet. Er krempelt den Staat mit täglich neu zusammengeschusterten Gesetzen im Eilverfahren um, entrechtet dabei Institutionen wie das Verfassungsgericht und platziert seine Parteifreunde in alle wichtigen Positionen.

Um kurz anzureißen, was alles in Ungarn schiefläuft, zitiere ich einen Kommentar des Users rigó_jancsi auf einen Spiegel-Online Beitrag. Hier ein Auszug:

„… Erst wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist, wird man in Europa aufmerksam. Ihr Artikel zeigt die wichtigsten Eckpunkte auf, kratzt aber nur an der Oberfläche des täglichen Wahnsinns.


Kein Wort über die enteigneten Privatrenten, kein Wort über die Frührentner, die rückwirkend wieder dem Arbeitsmarkt zugeführt werden sollen, kein Wort darüber, dass das nationale Glaubensbekenntnis bereits seit 2010 in jeder Behörde sichtbar hängen muss und dass die Regierung in den Behörden zusätzlich "Tische der Verfassung" eingeführt und explizit geregelt hat, wie die Verfassung dort zu präsentieren sei. Kein Wort über die erbärmliche Kampagne gegen Daniel Cohn-Bendit als Kinderschänder, nachdem er es im EP gewagt hatte, Orbán zu kritisieren. Vom wohlwollenden Zurechtschneiden dieser Debatte im EP für das ungarische Fernsehen gar nicht zu reden. Kein Wort über die willkürliche Aberkennung des Status als Religion dutzender Glaubensgemeinschaften. Kein Wort über die Kriminalisierung Obdachloser. Kein Wort über die fadenscheinig anderweitig vergebene Frequenz von Klubrádió, kein Wort über den bereits mehrwöchigen Hungerstreik vor dem Rundfunkgebäude und über die wiederholten plumpen Auslassungen und befohlenen Selbstzensuren im Staatsfernsehen.“

Einige dieser Punkte habe ich in einem älteren Artikel angesprochen. Wie wenig die staatlichen Medien auf wahrheitsgemäße Berichterstattung geben, zeigte sich auch während der Großdemonstration vor dem Opernhaus.

Zahlreiche Sicherheitskräfte riegelten den Platz vor dem Gebäude weiträumig ab. Genau dort positionierte der staatliche ungarische Fernsehsender M1 seinen Reporter, der von den Protesten berichten sollte – und zeigte leere Straßen. Zwar traute man sich wohl nicht, die Demonstrationen ganz auszuschweigen, doch sie wirklich zu zeigen eben auch nicht.

Später hieß es, das Kamerateam sei im Stau stecken geblieben und deshalb erst gekommen, als die Demo schon vorbei war. Wie viel die staatliche Rundfunkzentrale MTVA tatsächlich an der Realität gedreht hat, lässt sich aus der Ferne schwer bewerten. Regierungssprecher sollen laut Pester Lloyd von wenigen Tausend Verwirrten gesprochen haben, die die Wahlniederlage der Sozialisten noch immer nicht überwunden hätten.

Der Druck auf Viktor Orbán wächst. Auch von außen. Er kommt von Hillary Clinton und vom Internationalen Währungsfonds sowie von der EU-Kommission. Während die amerikanische Außenministerin zu Recht den Abbau der Demokratie beklagt, monieren IWF und EU vor allem, dass die Unabhängigkeit der Ungarischen Nationalbank bedroht ist. Es ist natürlich erfreulich weil höchste Zeit, dass die Institutionen endlich einschreiten. Traurig ist, dass es scheinbar nur Einschnitte in die Freiheit der Märkte schaffen, Barosso und Lagarde zu Kritik zu bewegen.

Der Druck kommt außerdem von den Finanzmärkten. Alle drei großen Ratingagenturen haben die Kreditwürdigkeit Ungarns auf Ramsch-Niveau herabgestuft. Die ungarische Währung Forint befindet sich einen Rekordtief und rutscht weiter ab, (was übrigens auch für ungarische Privathaushalte bedrohlich wird, da viele Kredite in Schweizer Franken zu begleichen haben). Für Staatsanleihen mit einem Jahr Laufzeit muss das Land mittlerweile fast 10 Prozent Zinsen bezahlen und wird die Papiere auf dem Markt trotzdem kaum los.

Die Regierung Orbán bleibt bei ihrer Propaganda-Linie: Schuld sind natürlich nur die anderen, nämlich ausländische Spekulanten. Und eigentlich brauche man auch vom Internationalen Währungsfonds keine Hilfe. Man versuche lediglich ein Sicherheitsnetz aufzubauen. In Wahrheit muss Orbán um einen Notkredit beim IWF betteln und vermutlich bald auch sein Nationalbankengesetzt einstampfen.

Und letztlich kommt der Duck auch von der Straße. Wie von machen Ungarn zu hören ist, zeigt sich Orbán selbst immer seltener im Fernsehen und lässt lieber Regierungssprecher für sich reden. Auch die Festlichkeiten im Opernhaus musste er durch ein Hintertürchen betreten und verlassen. Jener Viktor Orbán, der sich in Oppositionszeiten noch als Mann der Straße aufspielte, sich unter die Gegner seines Vorgängers mengte und selbst zu Demonstrationen anstachelte. Jener Viktor Orbán muss sich nun im Festsaal verkriechen? Vielleicht ist Orbán sich der bereiten Unterstützung in seiner Bevölkerung doch nicht mehr so ganz sicher. Draußen tobt ein Prozent des Volkes und skandiert „Orbán führt das Land ins Chaos“, drinnen feiert sich genau jener Ministerpräsident selbst – natürlich unter Ausschluss der nichtstaatlichen Medien. Feiert so eine Demokratie eine revolutionäre Verfassung?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Peter Knobloch

Seit September arbeite ich als ifa-Redakteur bei Radio Neumarkt in siebenbürgischen Neumarkt, Târgu Mureș

Peter Knobloch

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