Die Musik gehörte für Sartre zweifellos zum Machtbereich jener "rettenden, heilkundigen Zauberin die", wie Nietzsche schrieb, "es allein vermag das Entsetzliche und Absurde des Daseins in Vorstellungen umzubiegen, mit denen sich leben läßt ..."
Sartre, der nach dem frühen Tod seines Vaters wieder mit seiner Mutter, einer geborenen Schweitzer, in deren Familie lebte, wuchs dort in einer hochmusikalischen Umgebung auf, in der man selbst ein oder zwei Instrumente spielte und gelegentlich auch komponierte. Der Berühmteste in dieser Familie war damals zweifellos Albert Schweitzer, der Arzt und Theologe, Organist und Bachforscher. Sein Werk über den großen Thomaskantor, 1905 erschienen, galt lange Zeit als Standardwerk und hat nachhaltig auch auf unser Bach-Bild gewirkt. Albert Schweitzer war Sartres Großonkel.
Während Sartre, der "Erzintellektuelle" und "Jahrhundertphilosoph", wie ihn Bernard-Henri Lévy in seinem profunden biographischen Essay nannte, auf vielen Gebieten schreibend und handelnd tätig war, hat er über seine Liebe zur Musik und deren spannungsvolle Beziehung zu seinem Werk kaum je geschrieben. Es scheint, als hätte sich der Philosoph neben so vielen intellektuellen Schauplätzen ein letztes Refugium bewahren wollen.
Erst in seinen späteren Jahren hat Sartre in einem autobiographischen Text, den er Die Wörter nannte, erzählt, von welcher Art die musikalische Atmosphäre war, in der sich für das heranwachsende Kind diese seltsame Verbindung von Existenz, Musik und Imagination melangierte, in der bereits die kunstvolle, lebenslang wirksame Balance zwischen Sein und Nicht-Sein (Néant) eingeübt wurde.
Die Musik, insbesondere das Klavierspiel der Mutter, inspirierte das Kind zu musikalisch-dramatischen Rollenspielen, in denen es sich in phantasievoll vorgestellten Heldenrollen und abenteuerlichen Situationen irrealisierte und Handlungsorte im Imaginären suchte. Später erinnerte sich Sartre an das "unbeschäftigte Kind, das mit sich selbst zu tun hat, einen Lebensgrund sucht und sich als gelebte Musik im Arbeitszimmer seines Großvaters herumtreibt."
Hier begann das, was Sartre später einen "Irrealisierungsprozess" genannt hat, ein De-Realisierungsverfahren, dessen phänomenologische Beschreibung und reflexive Analyse einmal den Kern seiner ästhetischen Betrachtungen bilden wird. Im Übrigen wird in diesen musikalischen Rollenspielen ein Ausweg von gewissen Bedrückungen und wiederkehrenden Bedrängnissen schon in der Kindheit gesucht, eine Art Sublimierung der rohen Existenz, ihrer Zufälligkeit und zähen Klebrigkeit. "Der Mensch", wird Sartre später sagen, "der Mensch gleicht entweichendem Gas, er strebt hinaus ins Imaginäre."
In dem Roman Der Ekel, der 1938 erschien, hatte Sartre sehr eindrucksvoll das Drama zwischen phänomenologischer und ekstatischer Wahrnehmung dargestellt und den erzählerischen Versuch unternommen, die momentane Befreiung, ja vorübergehende Erlösung der alltäglich gelebten Existenz durch die Kunst, insbesondere durch die Musik, in den sondierenden Tagebuchaufzeichnungen eines gewissen Antoine Roquentin zu beschreiben. Dort verweist die Musik, ein alter Ragtime mit gesungenem Refrain, Sartres Protagonisten auf ein Glück, in dem sich die Welt und "die Welt der Existenzen" verflüchtigen.
Zwei Jahre nach dem Roman erschien der Essay Das Imaginäre, eine Studie über "die phänomenologische Psychologie der Einbildungskraft", in der Sartre unter anderem den existentiellen Status des Kunstwerks, auch des musikalischen Kunstwerks, zu bestimmen suchte. Dieser Essay enthielt in einem besonderen Kapitel gewissermaßen einen philosophischen Kommentar zu den eigenen Musikerlebnissen und denen des Tagebuchschreibers Antoine Roquentin aus dem Roman Der Ekel.
Sartre unterscheidet in Das Imaginäre das (bloß) wahrnehmende vom vorstellenden Bewusstsein und nennt die Fähigkeit des Bewusstseins zur Imagination seine "wesentliche transzendentale Bedingung". Für Sartre ist das ästhetische Objekt - im Gegensatz zum wahrgenommenen Gegenstand - ein "Irreales", das vom vorstellenden Bewusstsein als nicht-existierend gesetzt und erfasst wird.
Ein Roman, ein Gemälde, ein Musikstück sind für das vorstellende Bewusstsein zunächst "reale", das heißt bloß wahrgenommene Objekte: das bedruckte Papier, die bemalte Leinwand und die Partitur des Musikstücks. Sie dienen als "Analoga", um die Kunstwerke im Imaginären zu konstituieren. Dieser Prozess ist ein vollkommen anderer als das gewöhnliche Wahrnehmen von Dingen: das "Setzen des imaginären Objekts" ist ein Akt, "der das Nichten der Welt in seiner Wesensstruktur enthält." Er übersteigt das Wahrnehmen und die reale Welt.
Deshalb kann Sartre beispielsweise sagen, dass Beethovens 7. Sinfonie ganz außerhalb des Realen sei, eine Abwesenheit und gewissermaßen außer Reichweite. Die konzertante Aufführung wäre das "Analogon" (in der Realität), durch das sich die 7. Sinfonie manifestierte. Die Sinfonie erklingt Ton für Ton und voranschreitend Takt für Takt. Der Klang wird erzeugt und erlischt wieder. Der musikalische Zusammenhang muss im Kopf des Hörers imaginiert werden. So kann Sartre den Schluss ziehen, dass man Musik nicht im Realen, sondern im Imaginären hört, dass man von einer Realisierung des Imaginären nicht sprechen könne, sondern höchstens von seiner Objektivierung.
Das Imaginäre ist so zentral, weil es ein anderes, freieres Verhältnis zwischen dem Menschen und den Dingen, zwischen der Existenz und dem Realen etabliert, und daher ist das Aufhören der Musik für Sartre wie das Erwachen aus einem Traum, wie ein Rücksturz zum Realen und verbunden mit Ernüchterung und Unbehagen: "ein fasziniertes, im Imaginären blockiertes Bewußtsein ... wird durch das Aufhören der Sinfonie befreit und nimmt unvermittelt wieder Kontakt mit der Existenz. Mehr bedarf es nicht, um den großen Ekel hervorzurufen, der das realisierende (d.h. das wahrnehmende; P.K.) Bewußtsein charakterisiert." Vor einiger Zeit hat das Daniel Barenboim im Gespräch mit Edward Said so ausgedrückt: "Musik ist die beste Schule für das Leben, aber auch der schnellste Weg ihm zu entkommen."
Zu Beginn der fünfziger Jahre schrieb Sartre das Vorwort zu einem Buch des Komponisten und Dirigenten René Leibowitz Der Künstler und sein Gewissen. Leibowitz war Schüler von Schönberg und Webern und hatte im Nachkriegsfrankreich die Neue Wiener Schule bekannt gemacht und durchgesetzt. Er hatte Sartre um dieses Vorwort gebeten, weil ihn die Frage beschäftigte, ob es neben der littérature engagée, für die Sartre sprach, auch eine "engagierte Musik" geben könne. Sartre wies das ab, indem er sich auf die absolute Musik bezog und Formen wie Oper, Oratorien, Kantaten und Lieder ausklammerte, da deren Bedeutung durch das Außermusikalische, durch den Sprechtext, vermittelt würde. Musikalisches Engagement wäre allein dann gegeben, wenn das Werk so beschaffen wäre, dass nur ein einziger Wortkommentar passen würde; die Klangstruktur müsste gewisse Worte abweisen und andere anziehen. Die absolute Musik aber sei "eine schöne Stumme mit den Augen voll Sinn."
Sartres eigene musikalische Praxis war stark geprägt durch sein bildungsbürgerliches Milieu. Er lernte Klavierspielen, übte jedoch nicht sehr systematisch, und versuchte sich an Klavierauszügen von Opern und Operetten und wagte sich schließlich an schwierige Stücke von Beethoven, Schumann, Bach und Chopin. Er erreichte schließlich ein gewisses Niveau, das sich hören lassen konnte, wie bezeugt wird.
Gelegentlich spielte er vierhändig, zuerst mit seiner Mutter, dann mit Simone de Beauvoir. In späteren Jahren musizierte er gemeinsam mit seiner Adoptivtochter Arlette El Kaim, die Flöte spielte oder sang. Auch Sartre sang mit einer schönen Baritonstimme klassische und romantische Lieder und mit Vorliebe das Lied vom König in Thule. In dem langen autobiographischen Gespräch Selbstporträt mit siebzig Jahren stellte er gegenüber Michel Contat, einem der Herausgeber des Sartreschen Werks in Frankreich, resümierend fest: "Die Musik hat mir immer viel bedeutet, als Zerstreuung ebenso wie als wichtiger Bestandteil der Kultur. Ich kann sagen, ich habe eine gute musikalische Bildung, von der Barockmusik bis zur atonalen Musik."
Gegen Ende seines Lebens hat sich Sartre noch einmal sehr ausführlich und speziell zur zeitgenössischen Musik geäußert. Dabei wurde deutlich, wie vertraut er mit Komponisten der Avantgarde schon seit Jahrzehnten war, und wie sehr er sich auch für die Entwicklung des musikalischen Materials interessierte. In den späten siebziger Jahren wurden in langen Gesprächen mit dem Komponisten Jean-Yves Bosseur und dem Literaturwissenschaftler Michel Sicard zu Fragen der modernen Musik Sartres musikästhetische Optionen deutlich.
Man spielte Sartre ausgewählte Musikstücke des 20. Jahrhunderts vor, in denen besonders deutlich das Zerbrechen von tradierten Formen, der Wechsel des harmonischen Systems, Transformationen der musikalischen Zeit, Stilgemische, Geräusche, Cluster-Techniken und Aleatorik die neue Sprache der Musik bestimmten.
Für Sartre galt es im Zeichen der Freiheit Neues zu finden, Unvorhergesehenes zu erzeugen, die Normen der tradierten Strukturen zu überschreiten, diese aber nicht gänzlich zu zerbrechen. Die starke Affinität Sartres zu Kompositionen wie der 3. Klaviersonate und den Structures pour deux pianos von Pierre Boulez oder zu Stockhausens Momente I und II wird erkennbar.
Bei Boulez findet Sartre ein gemäßigtes Spiel von Determination und Zufall. Eine Musik der gelenkten Freiheit, die ihren Formenplan in einem Prozess entfaltet, der ständig auch das Moment des Unbestimmten und des Zufälligen in sich trägt. Aber der Zufall bleibt lediglich eine Erweiterung des rationalen Konzepts variabler musikalischer Form, das letztlich noch immer der Kontrolle des Komponisten unterliegt.
Wie für Boulez muss auch für Sartre das komponierende Subjekt im Zentrum der musikalischen Konstruktion bleiben. In Stockhausens Momente I und II sieht Sartre sogar gewisse strukturelle Äquivalenzen zu seiner großen Flaubert-Studie, denn in den Momenten, einer Komposition aus dem Anfang der sechziger Jahre für Sopran, vier Chorgruppen und 13 Instrumentalisten, nutzt Stockhausen sehr verschiedene Strukturen, vielfältige Klangfarben und Materialien. Es sind der Begriff der Synthese und die in der Flaubert-Studie angewandte Dialektik, die Sartre hier unmittelbar in Beziehung zur Momente-Musik setzt.
Im Werk Sartres gibt es zahlreiche Bezüge zu musikalischen Ausdrucksformen, zu klassischem ebenso, wie zu modernem Material. Gelegentlich hat Sartre selbst darauf hingewiesen. Manchmal entdeckt man ganz unverhofft solche Konstellationen und ist überrascht und vielleicht auch ein wenig amüsiert. Indessen setzen solche Bezüge, auch bei experimenteller Musik, für Sartre immer den Status eines musikalischen Kunstwerks voraus. Der Brückenschlag braucht ein solides Fundament auf der anderen Seite.
John Cage hingegen und seine Auffassung vom Kunstwerk stehen ganz im Zentrum der ästhetischen Distanzierung Sartres. Cage ist wie eine Negativfolie, ein Gegenpol, und gilt Sartre als nicht seriös, eher als ein "Farceur".
Insbesondere die offene Form, das Bestreben von Cage, den Werkcharakter anzufechten und geltende Hierarchien zwischen Komponisten, Interpreten und Hörern/Zuschauern verschwinden zu lassen, sowie das Bestreben, Kunst und Leben miteinander zu verbinden, lehnt Sartre mit Entschiedenheit ab, "denn es ist die Wirklichkeit, es sind die tatsächlichen Ereignisse, die das Imaginäre aufsaugen." Dem Verlust des Imaginären aber kommt der Verlust an Schönheit gleich, denn die Schönheit ist ein Wert, der sich für Sartre nur auf das Imaginäre anwenden lässt.
Trotz des großen Interesses an moderner Musik ist Sartre deutlich von der Klassik und der klassischen Moderne geprägt. Bruitismus oder Diskontinuitäten der Intensität bleiben ihm fremd, und er erklärt dies mit dem Verlauf seiner musikalischen Erziehung und Entwicklung.
Schon in seinem Essay zu Der Künstler und sein Gewissen von Leibowitz hatte er sich die Frage gestellt, ob die künstlerische Freiheit, das rein Experimentelle, nicht Gefahr liefe, "zur Abstraktion zu führen und den Komponisten zum Beispiel jener formalen und rein negativen Freiheit werden zu lassen, den Hegel den Schrecken nennt." Für Sartre gab es in der Kunst ein wichtiges Kriterium, das der Schönheit. Er war in Sorge, wenn er es missachtet fand. Noch im Alter und fast schon blind träumte er von Werken, die er nicht mehr schreiben konnte. Er dachte auch an eine Ästhetik, in deren Zentrum der Begriff der Schönheit stehen sollte, einer Schönheit, die er am Ende nur noch als Klang wahrnehmen konnte.
Peter Knopp ist Mathematiker und Autor, unter anderem schreibt er Hörspiele, zuletzt Der Quintenmann. Am 20. und 21. Juni ist von Peter Knopp eine zweiteilige Konzert-Sendung Das Imaginäre oder der provozierte Traum. Sartre und die Musik aufDeutschlandradio Kultur zu hören. 20.03 bis 22.00 Uhr
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