Der britische Premierminister David Cameron muss stinksauer gewesen sein. Kaum hatte er angefangen, sich im wohlverdienten Urlaub vom News-of-the-World-Abhörskandal zu erholen, musste er auch schon wieder nach London zurückkehren: von der Erholung direkt zur Straßenschlacht, von der Sonne zurück in einen jener glorreichen wolkenverhangenen englischen Sommer. Das Leben kann so ungerecht sein: Haben diese Chaoten denn gar keinen Respekt vor den essentiellen Bedürfnissen eines Regierungschefs?
Was Cameron, nach England zurückgekehrt, sehen musste, waren bei Weitem die schlimmsten Ausschreitungen und Ausbrüche von krimineller Gewalt, die England in den vergangenen Jahren erfahren hat: Vorgeblich ausgelöst durch den dubiosen Tod eines jungen Mannes in London, verstärkt durch den unsäglichen Umgang der Behörden mit den trauernden Angehörigen, wandelte sich öffentlicher Unmut rasch in Vandalismus und massenhaften Diebstahl, in Körperverletzung und vermutlich rassistisch motivierten Mord. Wie kann das sein im Land der steifen Oberlippe, im Land von Oxford und Cambridge, von Eton und Wimbledon, im Land des Cream-Tea, im Märchenreich von Prinz William und seiner Kate?
Wie stets, wenn das Geschehen das Fassbare übersteigt, sind Experten mit einfachen Erklärungen und Politiker mit schnellen Lösungen nicht fern. David Cameron und die konservative Intelligenz beklagen den durch Jahrzehnte liberaler Ideologie hervorgerufenen Verlust allen Anstands und jedweder bürgerlichen Werte. Seit fünf Jahren spricht Cameron von der „zerbrochenen Gesellschaft“, auch am Dienstag tat er es wieder und forderte den moralischen Gegenangriff. Die politische Gegenseite sieht das nicht ganz so. Sie fühlt sich in der Annahme bestätigt, dass der aufgestaute Unmut über alltäglichen Rassismus und Arbeitslosigkeit, einhergehend mit dem Zurückschrauben staatlicher Transferleistungen, eben nun das Ventil des gewaltsamen Verdrusses des Prekariats gefunden habe.
Immer dieselben Fragen
Beide Sichtweisen haben durchaus humoristischen Wert. Die aufbegehrende Jugend hat – wenn man die Randalierer und Plünderer denn wirklich schon als Indikator für die Gesamtgesellschaft sehen will (in Wirklichkeit handelt es sich natürlich um eine kleine Minderheit) – keineswegs das Interesse an bürgerlichen Werten verloren: ganz im Gegenteil! Diese Jugend hat sich die derzeit in England gültigen bürgerlichen Werte direkt aus den Elektronik- und Schnaps-Läden in ihre viktorianischen Reihenhäuser geholt und – ganz im Stile der Werte der britischen und internationalen Finanz- und Politikelite (Stichwort: Spesenskandal) – das Bezahlen für den angerichteten Schaden für unnötig gehalten. Überhaupt fragt man sich, was David Cameron und seine Tories zur moralischen Instanz befähigt: Die Klage um die moralische Verwahrlosung der englischen Jugend und der damit verbundene Schrei nach durchgreifenden Maßnahmen ist schon ein arg dreistes Stück von einem Premierminister, der bis Anfang des Jahres einen der Hauptschuldigen des News-of-the-World-Abhörskandals als seinen Pressesprecher beschäftigt hat. Dieser Fisch stinkt gewaltig, aber er stinkt wie so oft vom Kopfe her!
Bedeutet das, dass die Vertreter des linksliberalen Spektrums mithin näher an der Wahrheit liegen? Schwerlich. Labour hat unter Tony Blair lange genug dem wirtschaftsfreundlichen Neoliberalismus gehuldigt, Studiengebühren in horrenden Größenordnungen eingeführt und ein System dauerhafter Transferleistungen eingeführt, anstatt die grundlegenden Strukturprobleme der englischen Wirtschaft – ein Vermächtnis der Thatcher-Ära – anzugehen: Wirtschaftsboom als Opium für das Volk. Darüber hinaus hat man es versäumt, dem fundamentalen Wandel der britischen Gesellschaft insbesondere in den größeren Städten des Landes, befördert durch massenhafte Einwanderung, Rechnung zu tragen.
Das gegenwärtige konservative Mantra vom radikalen Zurückschrauben der von Labour beförderten Transferleistungen ist dabei finanziell zwar unabdingbar, jedoch doppelt zynisch: Zum einen hat das von Labour eingeführte System zwar den gewünschten Effekt gebracht und für relative Stabilität gesorgt, zum anderen aber war die Notwendigkeit der Ruhigstellung der Massen, durch Brot und Spiele sozusagen, überhaupt erst durch Thatchers ruinösen Umgang mit der britischen Industrie und ihren Gewerkschaften geschaffen worden.
Wenn die Jugend auf die Straße geht und für drei oder vier Nächte in verabscheuungswürdiger Manier brandschatzt und plündert, stellen sich Politiker und Journalisten jedweder Couleur routinemäßig die Frage: Warum tun sie das nur? Dabei ist es egal, ob dies in Deutschland zum 1. Mai oder in England scheinbar spontan geschieht. Wer jedoch immer nur dieselben Fragen stellt, bekommt auch immer nur dieselben Antworten: latenter Rassismus, befeuert durch fragwürdiges Verhalten der Londoner Metropolitan Police. Gegenden mit 50 Prozent und mehr Jugendarbeitslosigkeit. Babylonische Sprachverwirrung und fehlende Integration. Landesweite Studiengebühren von £ 9.000 pro Jahr (erst kürzlich erhöht von £ 3.000 pro Jahr). Astronomische Lebenshaltungskosten. Eine weit klaffende soziale Schere. Zahllose zerrüttete Familienverhältnisse. Aber ist es wirklich so einfach?
England, insbesondere in Greater London, ist eine in hohem Maße zersplitterte Gesellschaft. Dies hat nicht nur mit der sich tatsächlich immer weiter öffnenden sozialen Schere zu tun, nicht nur mit dem Verschwinden der Mittelschicht, dem eigentlichen ausgleichenden Element der Zivilgesellschaft. In England kommt erschwerend hinzu, dass das Land noch immer zutiefst von Standesdenken und Standesidentität geprägt ist, von einer Gesellschaft, in der Adel und Geldadel in der City of London den Ton angeben und schamlos ihren Reichtum zur Schau stellen. Dass dies Begehrlichkeiten weckt, ist kein Wunder. Das eigentliche Wunder ist: Warum kommt es nur so selten zu solchen Ausschreitungen? Wieso nur drei oder vier Nächte lang? Liegt es tatsächlich nur daran, wie der snobistische englische Volksmund witzelte, dass das Prekariat eh keinen Job länger als drei, vier Tage durchhalte und ihm nicht zugemutet werden könne, bei Regen zu arbeiten? Die Kürze und Einmaligkeit des Ereignisses (bisher) sind die eigentlich staunenswerten Elemente, denen sich die Psychologen und Gruppendynamik-Spezialisten einmal zuwenden sollten.
Der romantische Blick
Der Blick von Deutschland auf britische Kultur ist allzu oft ein aristokratisch-romantischer Blick der siebziger und achtziger Jahre, geformt durch intensives Studium von Rosamunde Pilcher und RomComs wie Notting Hill. Dieses aristokratische England jedoch ist eine Verklärung der wahren Verhältnisse, es beschreibt die wahren Verhältnisse in den tristen Vierteln Greater Londons, Manchesters oder Liverpools nicht im Ansatz. Hier herrschen Armut, Arbeitslosigkeit und Kleinkriminalität, das Straßenbild wird bestimmt vom Drogenhandel und Jugendbanden, insbesondere Angehörige ethnischer Minderheiten sind unverhohlenem Rassismus ausgesetzt. In dieser Hinsicht waren die Londoner Krawalle gewissermaßen ein „Abziehen“ der blasierten Oberschicht durch die Rowdys derselben Schulklasse. Die besondere Brisanz des Falles besteht darin, dass derzeit selbst diejenigen jungen Menschen, die mit Engagement ein immer teurer werdendes Universitätsstudium durchlaufen, immer weniger Perspektiven haben.
Das Einzige, was zwischen Zivilisation und reiner Anarchie (im nicht-ideologischen Sinne) steht, ist Kultur – ein fragiles, verletzbares Gebilde, welches zu allen Zeiten Anfeindungen von allen Seiten ausgesetzt ist. Kultur und bürgerliche Werte werden derzeit von allen Seiten angemahnt, die Reaktion auf die Krawalle ist reaktionär. Vielleicht wäre es in diesem Zusammenhang keine schlechte Idee, einmal Werte wie Respekt und Miteinander auf den Prüfstand zu stellen und zu fragen, welche Möglichkeiten weiten Teilen der Jugend zur Mitsprache und aktiven, positiven Mitgestaltung der Gesellschaft eigentlich gegeben sind, was ihnen an Teilhabe möglich ist – und natürlich auch, welches Vorbild die herrschende Klasse ihnen gibt. Wer ernstlich an einer zivilen Gesellschaft interessiert ist, darf sich nicht nur um die Mehrung des Wohlstandes und des Lebensstandards einer kleinen Elite kümmern, sondern muss sich darum bemühen, dass niemand den Anschluss verliert.
Als die Finanzkrise 2009 das Land beutelte, klebten viele Briten ein Plakat mit einer alten Durchhalteparole an die Wand: „Keep calm and carry on.“ Auch nach den Unruhen der vergangenen Woche wird erst einmal Ruhe einkehren. Aber die Probleme bleiben. Wenn sich gesellschaftlich nicht grundlegend etwas ändert, wird das Plakat ganz schnell aus der Mode gekommen sein.
Peter Kruschwitz lehrt klassische Altertumswissenschaft an der University of Reading
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