Die Unmöglichkeit des Übersetzens drückt sich auf die verschiedensten Weisen aus. Zum einen gibt es die rein wörtlichen Probleme, perfekt geschildert von einem Metzger in Berlin, der längst die verschiedenen Speisen seines Mittagstisches – Krakauer im Brot, Thüringer im Brot, Weißwurst im Brot und so weiter – jeweils mit der Übersetzung „Type of German Sausage in Bread“ besorgte. Eine richtige und doch völlig nutzlose Übersetzung; ich könnte es selber kaum besser.
Es gibt aber auch Texte, die sich zwar wörtlich in eine Fremdsprache übertragen lassen, wo die kulturelle Bedeutung aber zwangsläufig so anders ist, dass man sich fragt, ob das Original die Übersetzung überleben kann. Bei fast jedem amerikanischen Schreiben über Rasse ist dies der Fall. Die geschichtliche Erfahrung der Afroamerikaner ist zugleich einmalig und ein Beispiel für ein sich ewig wiederholendes Muster von Unterdrückung und Gewalt.
Schon innerhalb eines kulturellen Kontextes ist es schwer genug, zwischen der Spezifik und der Universalität der historischen Erfahrung zu vermitteln. Wer aber einen Text verfasst, der auch jenseits des spezifischen Kontextes in der Lage ist, sowohl dem Spezifischen als auch dem Allgemeinen gerecht zu werden, verdient Bewunderung. Toni Morrisons Die Herkunft der anderen ist so ein Text. Er wurde aus einer Vortragsreihe in Harvard nachgedruckt – und wir erfahren daraus sehr viel Konkretes über die Erfahrungen der schwarzen Amerikaner. Eine Auseinandersetzung mit diesem Buch verspricht aber zugleich auch einen besseren Umgang mit jeder Form der Andersseins.
Schäbige Strohmänner
Das Vorwort von Ta-Nehisi Coates verdeutlicht diese Dimension. Nicht etwa weil Coates die Rätsel des Textes entschlüsselt oder uns einen besonderen Zugang zu Morrisons Gedanken ermöglicht. Sondern weil Coates’ Text, anders als Morrisons, die Übersetzung nicht übersteht. Selbst in einem amerikanischen Kontext wundert man sich, dass er von Hurricane Katrina, Black Lives Matter, Obama und Trump erzählt, als wären dies die Ereignisse eines vergangenen Jahrhunderts, die dem Leser völlig fremd wären.
Für amerikanische Leser sind aber die schäbigen Strohmänner – jene halbgebildeten Twitter-Marxisten, die behaupten, es wären reine Klassenressentiments, die zu Trumps Wahlkampfsieg führten – zumindest ein unmittelbarer Teil der kulturellen Debatte. Coates‘ Text zielt darauf ab, die Emotionen und Ressentiments dieser Twitter-Debatten wieder hervorzurufen: Er muss nichts Neues sagen, weil es gar nicht darum geht, seine Leser zu informieren. Wo seine Strohmänner behaupten, Rassismus habe keine Rolle gespielt, beharrt Coates auf dem Rassismus als vorrangiges Deutungsmuster für die neueren Entwicklungen der amerikanischen Politik. Das ist eine einfache Darstellung eines komplizierten Wahlkampfs. Wer den Text aber in einem fremden, also in einem deutschen Kontext liest, könnte zu einem gefährlichen Schluss kommen: „Schon tragisch, dass sie da drüben solche Probleme haben. Gut, dass wir in Deutschland toleranter sind.“ Das Beharren auf der Spezifität der geschichtlichen Erfahrung von Afroamerikanern verkürzt Rassismus zu einer rein amerikanischen Sünde. Trotz der guten Arbeit von Thomas Piltz missglückt die Übersetzung von Coates. Ohne diskursiven Kontext kann er nur die Ignoranz fördern.
Ganz anders geht Morrison vor. Bei ihr steht die Rassismusfrage im Vordergrund, wird aber verstanden als „Richtschnur der Unterscheidung, ebenso wie Besitz, Klassenzugehörigkeit und soziales Geschlecht“. Wie diese anderen Unterscheidungsmerkmale ist Rasse mit Fragen der „Macht und Herrschaft“ verquickt. Morrisons Lesart ist von einem seltsamen Zwiespalt angesichts dieser Machtverhältnisse geprägt: Auf der einen Seite ist sie als schwarze Frau immer in einer gesellschaftliche Position der Machtlosigkeit gewesen. Auf der anderen Seite hat kaum jemand die zeitgenössische amerikanische Literatur so geprägt wie Morrison, vor allem durch ihr eigenes Schreiben, aber eben auch durch ihre langjährige Arbeit als Verlegerin von Toni Cade Bambara, Angela Davis, Gayl Jones, Huey Newton und vielen anderen. Sie hat also Einfluss.
Den nutzt sie aber bedacht. Man kann von Morrison unheimlich viel lernen; sie will ihre Leser aber nur selten belehren. Viel eher lädt sie uns zum Verstehen ein. Sie liest uns vor, lässt uns eigene Schlüsse ziehen. In der Lektüre von Hemingway und Faulkner zum Beispiel findet sie mehrere Stellen, wo Schwarze entmenschlicht werden. Längere Zitate von beiden Autoren belegen ihren Vorwurf des „Kolorismus“. Trotzdem hat man nie das Gefühl, Morrison wolle die beiden als Rassisten entledigen. Sie stellt eher eine Frage: Wie viel an Spannung oder Leserinteresse hätten Faulk ner und Hemingway verloren, wenn sie den Kolorismus vermieden hätten?
Diese Frage muss man für sich selbst beantworten; Morrison beschreibt nur ihre eigenen Schwierigkeiten, über „Schwarze zu schreiben, ohne in die Falle des Kolorismus zu tappen“. Sie schreibt von ihrem Bemühen in Sehr blaue Augen oder Gott, hilf dem Kind sowie Gnade, der Hautfarbe ihre magische Macht zu nehmen. Die Leser sollen nicht immer wissen, welche Figuren schwarz sind. Sie sollen vielmehr darüber nachdenken, dass „die weiße Herrin in Gnade,“ obwohl sie keine Sklavin ist, in einer „arrangierten Ehe gekauft wurde, als wäre sie eine“. Dem Kolorismus will sie so entkommen, ist er doch „nichts anderes als ein Echo der Sklaverei“. Immerhin gesteht sie anderen schwarzen Autoren zu, ihre Bemühungen, dem Kolorismus zu entkommen, „abwegig oder uninteressant zu finden“.
Kaum noch Romane
Das ist typisch für ihre Vorgehensweise. Alles, die eigene Arbeit eingeschlossen, wird infrage gestellt. Alles, auch die eigene Person, wird auf Fremdenhass geprüft. Damit steht sie nicht allein. Viele sind bereit, Vorurteile ans Licht zu bringen, und auch der selbstkritische Impuls ist kein alleiniges Merkmal Morrisons. Fast singulär ist aber Morrisons Fähigkeit, dabei stets das Gefühl von Respekt, sogar von Liebe zu verbreiten. Sie will Geschichten hören, will Geschichten erzählen. Sie scheut sich nicht zu protestieren, wenn den Afroamerikanern Unrecht zugefügt wird. Ihr Interesse gilt dabei nicht vorwiegend der Kritik, sondern dem Erzählen. Es sind Muster, die helfen können, über Probleme des Andersseins nachzudenken, zu sprechen, und vor allem davon zu erzählen.
Als sie 2016 die Vorlesungen hielt, war Morrison schon 85, und obwohl sie immer noch aktiv ihre literarische Arbeit verfolgt, ist die Zeit für eine neue Generation von Autoren und Intellektuellen gekommen. Es mangelt nicht an starken schwarzen Stimmen in der englischsprachigen Welt. Autoren wie Zinzi Clemmons, Teju Cole und Marlon James führen Morrisons literarisches Erbe fort. Doch auch ihre Arbeit ist gefährdet. Nicht nur weil unter Donald Trump die Situation der Afroamerikaner und anderer Minderheiten noch prekärer geworden ist. Morrisons literarischen Erben droht noch eine andere Gefahr: Immer wieder beklagen Freunde, die im New Yorker Verlagswesen arbeiten, dass sich Sachbücher zur Zeit besser verkaufen denn je, Romane hingegen fast gar nicht mehr. In Zeiten von Fake News will man Fakten, Kritik, Analysen. Linksorientierte Amerikaner lesen unermüdlich über Rasse und Rassismus. In diesem Umfeld ist nicht Morrison, sondern Ta-Nehisi Coates zum „einflussreichsten Autor Amerikas“ geworden, meint George Packer.
Das ist besorgniserregend, nicht nur weil Coates, wie Cornel West geschrieben hat, „einen engstirnigen ethnischen Tribalismus und einen kurzsichtigen politischen Neoliberalismus“ vertritt. Sondern auch weil Coates nicht an die Macht des Erzählens glaubt, für die Morrisons literarisches Werk steht. Er will Geschichten weder hören noch erzählen. Er interessiert sich nur für Argumente, aber Argumente, egal ob gut oder schlecht, führen selten zu Mitgefühl, zu Respekt. Morrison hat uns gezeigt, wie es anders geht. Wir sollten sie lesen.
Info
Die Herkunft der Anderen: Über Rasse, Rassismus und Literatur Toni Morrison Ta-Nehisi Coates (Vorwort), Thomas Piltz (Übersetzer), Rowohlt 2018, 112 S., 16 €
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