„Ging auch ohne Couch“

Interview Als Freuds Psychoanalyse nach Indien kam, griff sie dortige Einflüsse auf, weiß Uffa Jensen
Ausgabe 25/2019
Indische Sitzkultur veränderte auch das klassische psychoanalytische Therapie-Setting
Indische Sitzkultur veränderte auch das klassische psychoanalytische Therapie-Setting

Foto: Keystone / Getty Images

Bei Kalkutta denkt man wohl eher an Yoga als an Freud. Zwischen diesen beiden gibt es aber doch auch Berührungspunkte, meint Uffa Jensen, der die Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse erforscht. Reibungslos verlief der Freud-Export jedenfalls nicht.

der Freitag: Herr Jensen, warum haben Sie sich gerade mit Kalkutta befasst?

Uffa Jensen: InKalkutta gab es die erste nichtwestliche psychoanalytische Vereinigung. In der Geschichte der Psychoanalyse etwas Neues.

Aber ist Indien das einzige nichtwestliche Land, in dem Freuds Denken früh heimisch wurde?

Es hätte auch andere Orte gegeben. Argentinien etwa oder andere Teile Lateinamerikas sind sehr interessant. Auch in Japan gab es eine relativ frühe Entwicklung der Psychoanalyse.

Besteht zwischen den Ländern, in denen die Psychoanalyse schnell aufgegriffen wurde, eine Verbindung?

Nein, es gibt sehr unterschiedliche Entwicklungen. In Lateinamerika gab es lange Zeit keine offizielle Vereinigung, aber, weil Freud früh ins Spanische übersetzt worden war, eine lebendige Rezeption. Und anders als in Europa fanden seine Ideen dort auch Eingang in die psychiatrischen Kliniken und wurden institutionalisiert, wenn auch nicht in der Form der Vereinigung, wie das bei der Psychoanalyse klassischerweise der Fall ist. In Japan wiederum waren es einzelne Personen, die nach Wien oder Berlin fuhren.

Um wen handelte es sich bei den ersten indischen Analytikern?

Es waren keine Briten, sondern einheimische bengalische Intellektuelle, Mittelschicht, höhere Kaste.

War es eine Reaktion auf den Kolonialismus, dass sie sich das Denken eines Wiener Psychiaters aneigneten?

Ja, die Gebildeten haben sich um 1900 sehr stark für nichtbritisches, aber europäisches Wissen interessiert. Man kann das auch an den vielen Zeitschriftendebatten vor Ort sehen. Man interessierte sich sehr breit und gerne für Dinge, die nicht in London passierten. Natürlich war London sehr wichtig als Zentrum der Kolonie. Aber man rezipierte deutsche Schriftsteller oder das Bauhaus und moderne europäische Baustile.

Nichtbritische Kultur sozusagen als Widerstand gegen die Kolonialmacht?

Sagen wir mal, ein antikolonialer Impetus. Man versuchte, andere Dinge zu erfahren. Und das war oft mit einer Kritik am Westen verbunden. Die Psychoanalyse galt einerseits als westlich, andererseits konnte sie aber auch, und das versuchten die Rezipienten sehr intensiv, den eigenen Ideen und Traditionen anverwandelt werden, auch den religiösen Traditionen. Sodass man immer auch sagen konnte: „Na ja, das steht zwischen beidem. Natürlich ist die Psychoanalyse durch die Kolonialisierung ins Land gekommen, wir können sie aber auch nutzen, um unsere eigene Vergangenheit und unsere Traditionen besser zu verstehen.“

Traditionen wie etwa Yoga?

Ja, zum Beispiel. Dieser Zusammenhang wird im Westen sehr schnell hergestellt, weil auch die Psychoanalyse in gewisser Hinsicht als Körpertechnik wahrgenommen wird, wie auch das Yoga. In Bengalen ist das nicht ganz so häufig wie in Europa, doch der Zusammenhang wird gesehen, im Sinne von „Okay, es handelt sich um eine indische Philosophie, eine indische Körpertechnik, eine indische Praxis, die ähnlich ist oder die man mit der Psychoanalyse vielleicht besser verstehen kann.“ Für die bengalischen Nationalisten, also die Schicht, die sich dieses Wissen angeeignet hat, war es sehr wichtig, sagen zu können: „Das moderne Europa hat da etwas gefunden, was wir Inder schon lange wussten.“

Zur Person

Uffa Jensen, Jahrgang 1969, ist Historiker und stellvertretender Leiter des Zentrums für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Sein Buch Wie die Couch nach Kalkutta kam. Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse ist 2019 im Suhrkamp Verlag erschienen (538 S., 28 €)

Sowohl Yoga als auch die Psychoanalyse versprechen, neurotische Leiden zu lindern.

Das hat im Westen zu Freuds Zeiten begonnen. Und die Rezeption östlicher Lehren für therapeutische Zwecke ist nach 1945 noch viel stärker geworden. Angelegt war es aber bereits in den 20er Jahren. Es gab Leute, die darüber schrieben und versuchten, solche Techniken zu entwickeln und weiterzuentwickeln, für den psychotherapeutischen Einsatz.

In Indien herrschte eine gänzlich andere Kultur als in Europa. War die Psychoanalyse da nicht fehl am Platz?

Das ist ein interessanter Punkt. Mir ging es in meiner Arbeit darum, zu zeigen, dass die Annahme, Psychoanalyse sei eine sehr westliche Idee oder Praxis, problematisch ist. Offenbar konnte sie exportiert werden und funktionierte. Interessant ist, auf welche Weise.

Wie standen Inder zum Ödipuskomplex?

Nicht nur die Inder, auch andere nichtwestliche Psychoanalytiker argumentierten in den 20er und 30er Jahren, dass es den Ödipuskomplex in nichtwestlichen Gesellschaften in dieser Form nicht gebe. Diese Kritik gefiel Freud und anderen, die das mitbekommen haben, gar nicht. Aber genau darum geht es, darüber wird verhandelt: Was an diesem Wissenssystem ist europäisch und noch nicht global genug? Wie können wir es weiter globalisieren?

Die Mutter spielt in der indischen Gesellschaft eine viel zentralere Rolle als im Westen.

Für mich als Historiker fällt es schwer, wirklich zu beurteilen, ob die Mutterbeziehungen in Indien anders waren oder nicht. Das wäre ein anderes Forschungsprojekt, das ich nie verfolgen könnte. Aber die Psychoanalytiker dort behaupten das und kritisieren die Vaterzentrierung der europäischen Psychoanalyse. Sie sagen, dass der Ödipuskomplex mit seiner Angst vor der Kastration durch den Vater so nicht funktioniert. Sie haben dafür auch einige Argumente, zum Beispiel, dass Kinder viel häufiger nackt sind, sodass es für indische Mädchen und Jungen überhaupt keine Überraschung ist, das Geschlecht der anderen zu sehen. Der Kastrationskomplex könne sich also gar nicht entwickeln.

Ist das überzeugend?

Ich kann nicht beurteilen, ob das richtig oder falsch ist. Aber es wird eben benutzt, um zu sagen: „Euer Ödipuskomplex, wie ihr oder Sie, Herr Freud, ihn euch denkt in Europa, funktioniert hier nicht so.“ Jenseits der Vaterzentrierung und dieses allmächtigen, strafenden Vaters steht die liebende Mutter, und die ist viel wichtiger. Auch in Indien. Wobei das Lustige ist, dass das auch für Europa gilt.

Inwiefern?

Die von Psychoanalytikern in Europa gegen Freud vorgebrachte Kritik bringt ja immer stärker die präödipale Mutter ins Spiel. Was macht die Mutter eigentlich mit dem Kind, bevor der Ödipuskomplex überhaupt einsetzt?

Denkt man an Analyse, denkt man an die Couch.

Man denkt, die Couch sei vielleicht nur ein Platz zum Liegen, und der Therapeut sitzt da irgendwo, das ist nicht wirklich aussagekräftig. Zeitgenössisch wurde diese Konstellation aber als Experimentalanordnung verstanden. Das hat mit der Geschichte der Hypnose zu tun, die in der Zeit davor sehr wichtig war. Aus dieser Richtung kommt ja auch Freud. Auch die anderen Praktiker hatten eine Hypnose-Ausbildung oder waren vorher mit Hypnose beschäftigt. Man versuchte dann, diese Konstellation zu verwissenschaftlichen. Die Couch ist aus dem Versuch hervorgegangen, unter Laborbedingungen die Beobachtung des menschlichen Geistes zu ermöglichen. Deshalb war die genaue Konstellation, wie man daliegt, wo der Analytiker sitzt, dann doch sehr bedeutsam – was sowohl die Vorschriften betrifft als auch die Art, wie es in der Realität umgesetzt wurde. Es macht plötzlich einen großen Unterschied, ob man sich gegenübersitzt oder ob jemand an die Decke starrt und den Analytiker nur hört, wenn überhaupt, und man im Liegen seinen eigenen Gedanken ausgeliefert ist.

Im Westen war die Couch ein gängiges Möbelstück. In Indien war sie eher fremd, oder?

Die Couch kommt im Westen im Laufe des 19. Jahrhunderts auf. Sie stand in großbürgerlichen Häusern, als Schlafsofa für den Nachmittagsschlaf. Als solches ist sie auch Freud geschenkt worden. Er hat dann aber angefangen, Patienten darauf zu platzieren, und das Setting experimentell weiterentwickelt. Ich habe mir also die Frage gestellt: Wenn das eine wichtige Anordnung ist und wichtig für die Praxis, wie wandert das aus? Wenn es für die Behandlungspraxis relevant ist, wie die Leute in einem Raum angeordnet sind, dann muss ein Analytiker wissen, wie er das nachbauen kann, wenn er am anderen Ende der Welt seine eigene Praxis einrichtet. Und es ist interessant, sich anzuschauen, wie die Couch gewandert ist. Für uns ist die Couch inzwischen ein Klischee, aber unter den Zeitgenossen war das Couch-Setting noch nicht so bekannt, es sei denn, jemand wäre selbst bei Freud in Behandlung gewesen.

Das Setting ist also genau so in Kalkutta angekommen?

Na ja, man musste dieses gesamte Gebäude aus Theorien und Praktiken an die dortigen Verhältnisse anpassen. Das ist noch einmal eine andere Ebene der Anverwandlung. Ein gutes Beispiel ist der Liegestuhl, den sie in Kalkutta benutzt haben. Einerseits keine Couch. Sie hatten dort auch Couchs, die man hätte verwenden können, die waren aber selten. Nun präsentiert sich folgendes Bild: Der Patient liegt nicht ganz so weit zurück, sitzt etwas aufrechter als auf einer Couch. Das ist eine Veränderung, aber man denkt dennoch an eine Couch. Es handelt sich um eine Veränderung durch Anpassung, aber gleichzeitig ist das Original noch sichtbar.

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